Die Situation des Behindertenwahlrechts in Deutschland ist beinahe sinnbildlich für die Lage in Gesamteuropa. Einige Staaten handhaben den Wahlausschluss von Personen unter Betreuung oder Vormundschaft noch strenger als die Bundesrepublik, in anderen Staaten sind die Regelungen ähnlich, und wiederum andere Länder sind schon da, wohin die Bundesrepublik mit einer neuen Gesetzgebung noch kommen will: beim vollumfänglichen Wahlrecht für Behinderte.
So zum Beispiel unsere Nachbarn aus Österreich. Lange war es auch dort üblich, unter vollumfänglicher Betreuung stehende Menschen vom Wahlrecht auszuschließen, bis der Verfassungsgerichtshof dieses Vorgehen für verfassungswidrig erklärte. Seitdem dürfen auch betreute Behinderte ihre Stimme abgeben. Selbst wenn ein medizinisches Gutachten und ein Gericht vollumfängliche Handlungsunfähigkeit feststellt, bleiben sie im Wahlregister eingetragen. Ganz ähnlich verhält es sich in Schweden, den Niederlanden, Irland
und Italien.
Anders sieht die Situation in Spanien aus. Dort dürfen Personen, die durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil entmündigt wurden, nicht wählen, unter der Voraussetzung, dass diese Einschränkung explizit veranlasst und im Urteilsspruch genannt wird. In der praktischen Umsetzung kann es deshalb durchaus vorkommen, dass ein Betroffener zwar in ökonomischen, vermögensrelevanten und persönlichen Bereichen unter Vormundschaft gestellt wird, aber trotzdem weiterhin das Wahlrecht behält. Diesem Ansatz des Individualausschlusses folgen auch zahlreiche andere Länder, darunter Frankreich, Tschechien, Slowenien oder Estland.
Es gibt aber auch die Variante des automatischen Wahlausschlusses. Das bedeutet, dass Menschen, die einen Vormund besitzen oder unter vollumfänglicher Betreuung stehen, automatisch das Recht zur Stimmabgabe verlieren. Die Möglichkeit einer individuellen Entscheidung, die trotzdem das Wahlrecht erhält, gibt es nicht. Das ist immer noch die am weitesten verbreitete Gesetzesregelung in Europa. Sie gilt unter anderem in Belgien, Bulgarien, Dänemark, Griechenland, Polen, Portugal, Rumänien, in der Slowakei, Zypern und in der Schweiz. Ob die aktuelle Gesetzgebung in der Schweiz noch lange Bestand hat, wird sich zeigen. Dort gibt es momentan ähnliche Diskussionen zur Einführung eines inklusiven Wahlrechts wie hierzulande in Deutschland. In den Kantonen Waadt, Tessin und Genf gibt es bereits die Einzelfallprüfung, in Genf überlegt man sogar, das uneingeschränkte Wahlrecht einzuführen. tb