München/Berlin – Während es im Bundestag um Leben und Tod geht, knallt die Sonne unerbittlich auf die Reichstagskuppel. Draußen in Berlin hat es 37 Grad, drinnen laufen die Klimaanlagen auf Anschlag. Dennoch ist es so heiß, dass sogar die Saaldiener heute ausnahmsweise den Frack ablegen dürfen.
Und auch die Diskussion ist hitzig. „Ihre Maßnahme geht einfach ins Leere“, ruft Stephan Pilsinger ins Plenum. Der Münchner CSU-Abgeordnete ist einer von 24 Rednern, die darüber debattieren, wie man die Leben von täglich sechs Menschen retten kann. Denn das ist die Zahl derer, die laut SPD-Politiker Karl Lauterbach auf den Wartelisten für eine Organspende sterben.
Das Problem ist offensichtlich: Obwohl 84 Prozent der Deutschen dem Thema positiv gegenüberstehen, haben nur 36 Prozent einen Spenderausweis. Zu wenige. Denn alleine fast 10 000 Patienten aus Deutschland stehen derzeit auf den Wartelisten der europäischen Vermittlungsstelle Eurotransplant. Sie alle brauchen eine Niere, ein Herz, eine Leber, eine Lunge, eine Bauchspeicheldrüse oder einen Dünndarm – das sind die Organe, die derzeit gespendet werden können. Auch Gewebe wie die Hornhaut der Augen, Haut oder Blutgefäße können transplantiert werden.
Um die Spenderzahlen zu heben, will eine fraktionsübergreifende Gruppe um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die doppelte Widerspruchslösung einführen. Sie würde voraussetzen, dass jeder Erwachsene Organspender ist, wenn er nicht ausdrücklich widerspricht.
Ihr gegenüber steht eine zweite – ebenfalls fraktionsübergreifende – Gruppe, zu der Pilsinger gehört. Auch sie hat einen Gesetzesentwurf eingebracht. Die Abgeordneten um Grünen-Chefin Annalena Baerbock wollen, dass die Bürger zum Beispiel bei Behördengängen regelmäßig gefragt werden, ob sie Organspender werden wollen. Aber ihre Zustimmung soll – wie bisher – nicht vorausgesetzt werden. Und es soll weiter das Recht geben, sich nicht entscheiden zu müssen.
Abwechselnd treten die Abgeordneten gestern ans Rednerpult. Immer ein Verfechter der Widerspruchslösung nach einem der Entscheidungslösung.
„Es gibt nichts Christlicheres, als im Tode einem anderen das Leben zu retten“, sagt Georg Nüsslein von der CSU. Er ist für die Widerspruchslösung. Wer kein Testament schreibe, müsse schließlich auch damit klarkommen, dass der Staat seinen Nachlass regle, sagt Nüsslein.
Grünen-Chefin Baerbock widerspricht ihm deutlich. „Unser gesellschaftliches Zusammenleben fußt auf dem Zustimmungsrecht.“ Auch FDP-Politikerin Christine Aschenberg-Dugnus sieht es so. „Der Staat darf aus einem Akt der freiwilligen Solidarität keinen Pflichtakt machen“, betont sie. Es könne doch nicht sein, „dass wir bei Veröffentlichung eines Bildes im Internet ausdrücklich zustimmen müssen“, aber nicht, wenn es um den eigenen Körper gehe. Das nicht zuzulassen, so Aschenberg-Dugnus, „hat mit Würde zu tun“.
Es müsse aber doch zumindest die Pflicht geben, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, „und zu widersprechen, wenn man nicht spenden will“, hält SPD-Politiker Lauterbach entgegen. „Mehr als die Hälfte derer, die bereit sind, Organe zu spenden, spendet nie.“ Er stimme ja zu, dass auch die Widerspruchslösung nicht das Ende aller Probleme sei. Aber wenn nur ein paar hundert Menschen im Jahr geholfen werden könne, dann genüge ihm das schon.
Dann tritt der Gesundheitsminister selbst ans Mikrofon, um für seinen Plan zu werben. Es sei nun einmal so, sagt Spahn: Der Gegenvorschlag werde faktisch einfach nichts ändern.
Das sieht die Mehrheit der Abgeordneten, die sich bereits festgelegt haben, ähnlich. Vor der gestrigen Debatte lag Spahn in Führung. Seinen Vorschlag unterstützten vorab 222 Abgeordnete, darunter auch Kanzlerin Angela Merkel. Für den Vorschlag der Gruppe um Baerbock hatten 191 Parlamentarier unterschrieben. Doch insgesamt gibt es 709 Abgeordnete. Noch ist das Rennen also offen. Die Entscheidung soll im Oktober fallen.
„Es wird sehr knapp“, sagt CSU-Mann Pilsinger. Entscheidend könnte am Ende auch sein, wie sich die AfD verhält. Die Partei hat sich an keiner der beiden Initiativen beteiligt und plädiert in einem eigenen Vorschlag für „ehrliche Aufklärung“. Gestern nutzte der AfD-Abgeordnete Paul Viktor Podolay sein Rederecht, um darauf hinzuweisen, dass eine allgemein gesündere Ernährung den Bedarf an Spenderorganen senken könnte. Doch neben diesem fast skurrilen Auftritt war aus den weiteren AfD-Wortmeldungen herauszuhören, dass die Fraktion der Widerspruchslösung äußerst kritisch gegenübersteht.
Das tut auch Pilsinger. Es sei „interessant, dass Spahn keine Studie vorlegt, die die Wirksamkeit der doppelten Widerspruchslösung belegt“, sagte er gestern unserer Zeitung. Denn Pilsinger selbst beruft sich immer wieder auf Erhebungen der Universität Kiel und des wissenschaftlichen Diensts des Bundestags, die zeigen würden, dass das eigentliche Problem vielmehr in der Organisation in den Krankenhäusern liege.
Eine ganz einfache Erklärung dafür, dass sich so wenige Menschen dazu durchringen, einen Organspendeausweis auszufüllen, liefert hingegen der FDP-Abgeordnete Otto Fricke: „Unser Leben ist endlich, aber wir wollen das nicht wahrhaben.“