München – Kritiker hatten es schon länger vermutet, jetzt ist es quasi amtlich: Die zweite S-Bahn-Stammstrecke wird gut zwei Jahre nach dem Spatenstich schon wieder umgeplant. Dadurch soll sich die Fertigstellung der zweiten Röhre „etwas verzögern“, wie es Ministerpräsident Markus Söder vornehm umschrieb. Als Jahr der Inbetriebnahme wird nun nicht mehr Ende 2026, sondern 2028 genannt.
Ein Grund für die Verzögerung: Die Stadt will, dass vor Fertigstellung der zweiten Stammstrecke am Hauptbahnhof noch ein Vorhaltebauwerk für die geplante U-Bahn-Linie 9 entsteht (siehe Artikel oben). Das ist ein Bahnhof im Rohbauzustand. Erst muss diese Haltestelle in den Untergrund betoniert werden, dann kann die zweite Stammstrecke folgen.
Einer hatte es schon länger geahnt: Der Fürstenfeldbrucker Grünen-Abgeordnete Martin Runge, seit eh und je Kritiker der Röhre, hatte bereits im Januar von „krachenden Fehlern“ gesprochen, weil die U9 nicht von vorneherein in der Stammstrecken-Planung berücksichtigt worden sei. Runge listet eine ganze Reihe von Versäumnissen auf, auch zu späte Bauvergaben zählen dazu. Er vermutet: „Die U9 ist nicht der alleinige Grund für die Verzögerung. Da werden Fehler der Vergangenheit verbrämt.“
Schon einmal hatte die Bahn umgeplant, die Haltestelle für die zweite Stammstrecke um 80 Meter verschoben. Jetzt kommt durch die U9 die zweite große Änderung.
Ohnehin ist klar, dass es am Hauptbahnhof zu einer Überlagerung großer Bauprojekte kommen wird – eine Herausforderung für Bauingenieure. Die U-Bahn-Linien U4/5 und U2/3 sowie jetzt auch noch die künftige U9 sollen sich hier mit zwei S-Bahn-Trassen kreuzen. Verbunden werden die einzelnen Geschosse durch einen 41 Meter in die Tiefe ragenden Baukörper („Nukleus“), der ungefähr dort entsteht, wo bisher die Schalterhalle des Hauptbahnhofs stand. Diese ist seit Mai gesperrt, sie wird für den Abbruch entkernt – um Platz zu schaffen für ein weiteres, oberirdisches Mammutprojekt: den Neubau des Hauptbahnhof-Empfangsgebäudes.
Aber auch am anderen Ende der zweiten Stammstrecke, am Ostbahnhof, muss die Bahn umplanen. Die neue Haltestelle für die zweite Stammstrecke soll, wie schon länger vermutet wurde, nun doch nicht am Orleansplatz entstehen, sondern auf der anderen Seite: an der Friedenstraße. Dadurch wird auch der neue Konzertsaal besser an den MVV angebunden. Wichtiger noch: Die Bahn rechnet mit einer vereinfachten Bauweise. „Wir müssen nicht so tief runter und können einfacher und kompakter bauen“, sagte Bayerns DB-Chef Klaus-Dieter Josel. Weiterer Vorteil: Die Bauarbeiten stören weniger Anlieger. „Die Bürgerinitiative in Haidhausen wird nicht unglücklich sein“, vermutet auch Kritiker Runge. Dennoch ist die Umplanung alles ander als trivial: Weil die Haltestelle geschätzt 50 Meter versetzt wird, entstehen andere Radien für die zweite Stammstrecke. Auch Rettungswege und Brandschutz müssen neu berechnet werden. Wenngleich Josel meint, dass die Bahn, nicht etwaige Anlieger, Hauptbetroffener der Planänderungen ist, ist eine so große Umplanung ohne Beteiligung der Öffentlichkeit undenkbar. Das sieht auch der Münchner Grünen-Abgeordnete Markus Büchler so. Er twitterte: „Das heißt: neues oder ergänzendes Planfeststellungsverfahren.“
Durch die Verzögerung hat die Bahn jetzt mehr Zeit, sich auf den Betrieb der neuen Röhre einzustellen – wenn sie dann mal endlich fertig ist. Der Zeitgewinn soll genutzt werden, um die Kapazität auf der zweiten Stammstrecke von Anfang größer zu dimensionieren als zunächst vorgesehen – und zwar gleich „um 25 Prozent“, wie Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sagte. Er nannte als Stichworte die Digitalisierung der Schienenwege und „neues Wagenmaterial“. Zur Digitalisierung gab es gestern nicht viele Details, eigentlich nur eins: DB-Chef Richard Lutz gab die Zusage, dass das störanfällige Stellwerk am Ostbahnhof bis 2023 ersetzt wird. „Digitales Kontrollzentrum“ nennt sich das Neubauprojekt im Bahndeutsch.
Und zum „Wagenmaterial“? Bekannt ist, dass die Bahn die heutigen 238 S-Bahnen der Baureihe 423 ersetzen muss. Das ist eine Milliardeninvestition. Im Gespräch sind nun bis zu 210 Meter lange Triebzüge. Ähnlich wie schon heute die neuen Münchner U-Bahnen soll die S-Bahn der Zukunft aus einem Gliederzug bestehen, durch den man von vorne bis hinten durchgehen kann. Er würde wesentlich mehr Fahrgäste fassen, als wenn man dann herkömmliche S-Bahnen zu einer 210 Meter langen Traktion aneinanderkoppelt. 210 Meter-Züge sind bei entsprechenden Kurvenradien kein Problem – ein ICE 4 misst heute schon in der zwölfteiligen Version 345 Meter. Allerdings: Viele S-Bahnhöfe außerhalb Münchens haben nur 140 Meter lange Bahnsteige. Also müsste die Bahn diese verlängern.
Das aber würde bedeuten: noch mehr Baustellen.
Auch am Ostbahnhof wird umgeplant – der S-Bahnhof kommt ins neue Werksviertel