München – Seine erste Münchner Wohnung hatte 55 Quadratmeter. Oder waren es 60? Ganz genau weiß Hans-Jochen Vogel, 93, das nicht mehr. „Wir haben vielleicht 50 D-Mark Miete gezahlt“, erzählt er. Es waren die 1950er und 50 Mark waren nicht nichts – aber verglichen mit heute war das ein Spott-Quadratmeterpreis. Vogel meint zu wissen, warum die Mieten gerade in München ins Unendliche klettern: Schuld seien die enormen Baulandpreise. Er hat nun ein Buch geschrieben, in dem er für eine Reform des Bodenrechts plädiert. Heute wohnt Münchens ehemaliger OB (1960 – 72) etwas teurer als 1950, im Augustinum. Wir haben ihn dort zum Interview besucht.
Herr Vogel, andere lehnen sich mit 93 zurück und genießen ihre Rente – Sie schreiben 80 Seiten über die Bodenreform. Warum tun Sie sich das noch an?
Weil es sich um ein Herzensthema von mir handelt. Ich habe mich schon als Oberbürgermeister intensiv damit beschäftigt. In den letzten Jahren wurde mir klar, dass zwar lebhaft über den Mietpreisanstieg debattiert wird, aber nicht über dessen eigentliche Ursache – die kontinuierliche Erhöhung der Baulandpreise.
2017 schrieben Sie von einer „verdrängten Herausforderung“. Ist die Politik bei dem Thema zu mutlos?
Ich gebe die Frage zurück: Haben sich denn die Medien damit befasst? Mir ist schwer erklärbar, dass dieses elementare Thema noch zu keinem Aufschrei geführt hat. Bundesweit sind die Bodenpreise seit 1962 um 2400 Prozent gestiegen, in München seit 1950 um 39 400 Prozent. (er schlägt mit der Hand auf den Tisch) Soll das immer so weitergehen?
Das sind gewaltige Zahlen.
Ich mache es noch deutlicher. 1950 kostete ein Quadratmeter Bauland in München drei Euro. 2017 waren es 1876 Euro. Was jetzt?
Das fragen wir Sie. Wie konnte es dazu kommen?
Grund und Boden ist unvermehrbar und unverzichtbar. Keiner von uns kann auch nur eine Sekunde ohne ihn auskommen. Dennoch wird er wie beliebige Gegenstände behandelt, die Marktregeln unterliegen, also Gewinn für Spekulanten erzielen sollen. Es gibt aber einen Unterschied zwischen Dingen, auf die man verzichten kann, und Dingen, die unverzichtbar sind. Ich meine: Für den wohnungsbaurelevanten Teil des Bodens sollen nicht mehr die Marktregeln gelten, sondern die Regeln des Allgemeinwohls.
Sie zitieren im Buch mehrmals das Grundgesetz und die Bayerische Verfassung. Ist die aktuelle Baupolitik ein kontinuierlicher Verfassungsbruch?
In Bayerns Verfassung heißt es: Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Und an anderer Stelle: Leistungslose Bodengewinne müssen der Allgemeinheit zugute kommen. Diese Artikel sind natürlich durch das Grundgesetz überlagert. Aber sie gelten insofern noch, als sie bewirken, dass die Mitglieder der Staatsregierung weiter verpflichtet sind, im Bundesrat entsprechende Initiativen zu ergreifen oder zu unterstützen.
Ihr Buch wirkt, als wollten Sie der Politik nun endlich Beine machen.
Ich möchte der Öffentlichkeit dieses ganze Problem nahebringen und konkrete Vorschläge machen. Es bleibt der Appell an die Parteien, insbesondere an meine, dass sie sich damit (er klopft auf sein Buch) beschäftigen.
Wie lautet Ihre Forderung?
Ich schlage vor, dass die Gemeinden mehr und mehr eigenes Bauland erwerben und dort Mietwohnungen bauen. Den Boden, den sie erworben haben, sollten sie nicht mehr verkaufen, sondern nur noch im Erbbaurecht weitergeben dürfen. Was die Bemessung der Mieten angeht, müssen dann die Regeln des Allgemeinwohls gelten, nicht die des Markts. Nur so lässt sich die Zahl bezahlbarer Wohnungen vergrößern.
Sie nennen die Stadt Wien als Beispiel …
… und – ich war bei der Recherche selbst überrascht –den Kanton Basel-Stadt. Der praktiziert das, was ich empfehle, und zwar auf Grund einer Volksabstimmung, bei der 67 Prozent der Bürger dafür gestimmt haben.
Was ist mit den Mietpreisen in Basel passiert?
Die haben sich stabilisiert, und genauso wie in Wien sind die Preise dort auf einer Höhe, über die wir nur staunen können.
Kann München das überhaupt noch aufholen?
Ja. München ist sogar schon Schritte in diese Richtung gegangen. Immerhin 9,5 Prozent aller Mietwohnungen gehören der Stadt oder stehen unter ihrem unmittelbaren Einfluss, und Oberbürgermeister Dieter Reiter hat klargemacht, dass nichts mehr an Boden verkauft werden darf.
Sie befürworten im Buch Enteignungen. Müsste in München angesichts der Preise im großen Stil enteignet werden?
Ob das im großen Stil notwendig wäre, würde sich zeigen. Ich schlage vor, dass die Gemeinde zunächst in ernsthafte Verhandlungen mit dem Grund-Eigentümer eintritt und auch Alternativen zum Verkauf anbietet; etwa einen Vertrag mit der Kommune, in dem der Eigentümer sich verpflichtet, günstige Wohnungen zu bauen. Lehnt er all das ab, dann kommt als letztes, aber notwendiges Mittel die Enteignung infrage.
Unbebauter Grund ist hier knapp. Würden nicht letztlich Haus- und Wohnungsbesitzer Angst vor Enteignung haben müssen?
Also ich sehe überhaupt keine Notwendigkeit dazu. Es kann höchstens im Einzelfall notwendig sein, ein bebautes Grundstück zu enteignen.
Ihr Plan klingt teuer, zumal viele Kommunen eh knapp bei Kasse sind …
Es erfordert Geld, das ist mir klar. Aber nicht die Entschädigungssummen, die fällig würden, wenn der Boden vergesellschaftet würde. Um den Kauf von Boden zu finanzieren, müssen Bund und Länder die Gemeinden weiter fördern. Wenn die Gemeinden dann sozial verträgliche Mieten festsetzen, spart der Bund ja wieder, weil er sich Wohngeld spart, das er an Geringverdiener zahlt.
Bei all dem, was Sie fordern, hören wir den halben Bundestag Sozialismus schreien …
Es geht ja nicht um Grund und Boden schlechthin – es geht um den wohnungsbaurelevanten Boden. Und wer mir mit Sozialismus kommt und meine Ideen ablehnt, muss dann bitte auch Alternativen nennen.
In Berlin gibt es den Mietendeckel, Bayern will das Baurecht entschlacken. Ist das wirkungslos?
Bis meine Maßnahmen greifen würden und der Grunderwerb der Gemeinden ausreichend fortgeschritten ist, sind Zwischenmaßnahmen notwendig, um die Mietsteigerung zu bremsen. Aber das hat keinen dauernden Effekt auf die Bodenpreise.
Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Sie mit Ihrem Buch Gehör in Berlin finden?
Ich denke, die Entwicklung der Bodenpreise – denken Sie an die Zahlen von 2400 und von 39 400 Prozent – wird dazu zwingen, dass man sich mit den Ursachen des Problems beschäftigt. Es geht um die Frage, ob maß- und leistungslose Bodenwertgewinne wichtiger sind als das Allgemeinwohl mit bezahlbaren Wohnungen.
Wer könnte denn ein Verbündeter für Ihre Ideen sein? Haben Sie mal mit Kevin Kühnert darüber gesprochen?
Er hat mich mal hier besucht und wir hatten ein sehr ordentliches Gespräch. Manche seiner Positionen kann ich nicht teilen, aber er diskutiert auf eine wohltuende Art und Weise. Ich habe ihm mein Buch geschickt und ihn um seine Meinung gebeten. Die Antwort steht noch aus.
Olaf Scholz hat als Hamburger Bürgermeister offenbar eine ganz ordentliche Wohnungspolitik gemacht. Ist er schon deshalb prädestiniert für den SPD-Vorsitz?
Sie führen mich in Versuchung, aber ich beantworte diese Frage nicht. Dass Scholz in Hamburg eine Wohnbaupolitik gemacht hat, die in einigen Punkten meinen Vorschlägen entspricht, will ich aber gern bestätigen.
Sehen Sie unter den verbleibenden Bewerberpaaren eines, dass die SPD wieder aufrichten kann?
Ich freue mich erst mal, dass der von mir unterstützte Vorschlag einer Doppelspitze übernommen wurde. Man kann nicht ständig über Gleichberechtigung reden und dann so eine Möglichkeit nicht ergreifen. Was das Auswahlverfahren betrifft, war ich zunächst skeptisch. Aber die 23 Termine haben dazu geführt, dass sich doch eine ganz ansehnliche Zahl von Parteimitgliedern mit den Kandidaten beschäftigt hat. Das sind gute Signale.
Die Einigung zur Grundrente hat gezeigt, dass die GroKo noch kann, wenn sie will. Raten Sie Ihrer Partei, weiterzumachen?
Das war eine Sache von großem Gewicht. Ich frage diejenigen, die aus der GroKo wollen: Glaubt Ihr ernsthaft, wir hätten das in der Opposition durchsetzen können? Noch etwas zum Schluss: Ich predige meiner Partei, so gut ich das noch kann, sie soll ihre Geschichte als Richtlinie ihres Handelns nehmen. Wer hat denn seit 1863 für Demokratie gekämpft und wer hat sie 1933 verteidigt? Alle haben dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, nur die Sozialdemokraten nicht. Wir sind deshalb gerade jetzt, da die Demokratie wieder Angriffen ausgesetzt ist, besonders gefordert.
Interview: Marcus Mäckler und Stefan Sessler