München – „Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Zuschauer, bitte erheben Sie sich für die Nationalhymnen.“ Es ist ein Länderspielsatz. Er fällt manchmal aber auch, wenn „nur“ eine Liga spielt und etwa im Eishockey die Finalserie ansteht. Deutsche Fans finden das oft ein wenig zu amerikanisch, wenn eine Sängerin in Glitzerrobe aufs Spielfeld tritt und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ anstimmt.
In Amerika ist diese Art von Patriotismus üblich. Das „Star Spangled Banner“ ertönt vor jedem Match in den Profisportligen. Patriotismus werde als nationaler Stolz auf die Werte und die Geschichte der USA definiert – „und diesen Stolz kann und will man aus eigener Sicht zeigen“, sagt Felix Maier-Lenz. Ein Teil seiner Familie stammt aus Portland im US-Staat Oregon, er ist Amerikaner und Deutscher und hat zum Thema „Sport, Identität und Nationalismus in den USA“ seine Doktorarbeit geschrieben. Amerika sah sich im globalen Kampf immer als die gute Seite – gegen das Deutschland der Weltkriege und den sowjetischen Sozialismus. Das Symbol Hymne blieb dann auch in Friedenszeiten – Marktwirtschaft. Maier-Lenz: „Die gezielte Verbindung von Sport und Patriotismus schweißt die Fans noch enger an ihr Team.“
Der Fall Kaepernick
Wenn man also weiß, was die Hymne in den Sportarenen der USA bedeutet, kann man ermessen, welche Wucht es vor vier Jahren hatte, als der Football-Profi Colin Kaepernick, Star der San Francisco 49ers, die Hymne nicht andächtig stehend begleitete, sondern in die Knie ging. Kaepernick sagte damals: „Ich werde nicht aufstehen und Stolz für eine Fahne demonstrieren, die für ein Land steht, das Schwarze und andere Farbige unterdrückt.“
Seitdem hat der US-Sport seine große Diskussion. Darf man ihn benutzen als Plattform für politischen und gesellschaftlichen Protest, in diesem Fall gegen Rassismus und Polizeigewalt? Kaepernick hat seitdem nicht mehr gespielt, kein Club wollte ihn verpflichten. Als hätten die Besitzer sich abgesprochen. Donald Trump hatte im Präsidentschaftswahlkampf 2016 gefordert, „den Hurensohn vom Feld zu nehmen“.
Protest trifft den Nerv
Was mit Kaepernick begann, erfährt mit dem Abstand von vier Jahren eine Dynamik, die Hans-Ulrich Gumbrecht für „irreversibel“ hält. Der gebürtige Würzburger lebt in Kalifornien, war Literatur-Professor an der Stanford-Universität, er schreibt sportphilosophische Bücher. „Ich habe Hoffnung, dass man in zwanzig Jahren auf den Sommer 2020 zurückblickt als den Beginn von etwas Neuem. Es wird nicht nur ein Anlauf sein wie 1968.“ Damals, bei den Olympischen Spielen in Mexiko, hatten die US-Sprinter Tommie Smith und John Carlos auf dem Siegespodest zur Nationalhymne für die „Black Power“-Bewegung demonstriert. Das Bild von hochgereckten Fäusten im schwarzen Handschuh ging um die Welt. Die Athleten wurden suspendiert und erst nach Jahrzehnten rehabilitiert.
Das Jahr 2020 erlebte die Tötung von George Floyd („I can’t breathe“) und den Fall Jacob Blake, dem ein ebenfalls weißer Polizist sieben Mal in den Rücken schoss. Blake wird wohl nie wieder laufen können. Am Montag wurde in Los Angeles erneut ein Schwarzer erschossen (Artikel rechts). Immer mehr Fälle rassistischer Herabwürdigung werden publik, und die großen Stars des Sports erheben immer lauter ihre Stimme.
Tennisstar Naomi Osaka, eine in Florida lebende Japanerin, trat nicht zu ihrem Halbfinale in New York an. In der Basketballliga NBA gingen die Teams in ihren Playoffs, der wichtigsten Zeit des Jahres, für zwei Tage in den Streik. Die „weißen Ligen“ in Eishockey und Baseball zogen nach. Die Basketball-Frauen der Washington Mystics trugen Shirts mit Einschusslöchern, die Footballer der Detroit Lions brachen ihr Training ab und schoben eine Tafel mit den Worten „We won‘t be silent – wir werden nicht leise sein“ vor das Trainingsgelände. Die Betroffenheit formulierte Doc Rivers, Basketballcoach der Los Angeles Clippers: „Man hat dafür gesorgt, dass wir nicht in allen Vierteln wohnen dürfen, man hat uns erhängt und erschossen. Während wir dieses Land lieben, erwidert es diese Liebe nicht.“
„Black Lives Matter“ trifft einen Nerv. „Es ist ein Satz, den nur wenige Amerikaner nicht unterschreiben würden“, sagt Gumbrecht, „noch nicht einmal Trump, und er würde nicht lügen.“ Die Proteste seien „in ihrer Intensität eine neue Form des politischen Engagements.“ Dazu komme, dass die Botschaften nun nicht von Intellektuellen transportiert würden, sondern von „somebody like myself“, also jemanden wie du und ich. Die Sportler werden zu Medien eines Mottos.
Spezielle Umstände, so glaubt Gumbrecht, schafft auch dieser Corona-Sommer. Eigentlich wäre Pause in den großen US-Ligen, doch gerade findet in einem durcheinandergeratenen Kalender alles statt. Die Teams leben als Schutz vor Corona eng zusammen in ihren Blasen in Disney World in Florida (Basketball) sowie Edmonton und Toronto (Eishockey). „Das sind besondere Resonanzbedingungen“, sagt Gumbrecht. Ein narzisstisches Sammelsurium von Leuten hat die Chance, sich untereinander zu beschäftigen. Aus Langeweile entsteht eine andere Form der Interaktion.“
Seine These sieht Gumbrecht auch durch den FC Bayern München und dessen Triple-Erfolg bestätigt: „Die waren als Mannschaft noch nie so gut wie bei dieser portugiesischen Endrunde.“ Dass auch deutsche Fußballer sich für „Black Lives Matter“ engagierten, habe dafür gesorgt, dass das Echo aus Europa verstärkt zurückgekommen sei.
Trump ist gewarnt
Tatsächlich haben die Proteste und Boykotte auch realpolitisch etwas bewirkt. In Donald Trumps Nominierungsrede fand sich wenig Aggressivität gegen die Sportler, „denn er hat einen Instinkt für die Stimmung im Land und merkt, dass seine Wahlchancen nicht gut stehen, wenn er gegen die Liga polemisiert“, sagt Gumbrecht. Die Basketballer haben die Club-Besitzer dazu bewegt, ihre Sport- und Veranstaltungshallen als Wahllokale bereit zu stellen, damit trotz der Corona-Einschränkungen eine breite Wahlbeteiligung erreicht werden kann im November. Gumbrecht: „Aus einem symbolischen Akt haben sich politische Möglichkeiten eröffnet.“
André Voigt, Chefredakteur des Basketball-Magazins „FiveMag“, macht noch auf einen Punkt aufmerksam. 80 Prozent der NBA-Profis sind Afroamerikaner, viele hätten als Kinder von ihren Vätern vorgefertigte deeskalierende Sätze mit auf den Weg bekommen, sollten sie in eine Polizeikontrolle geraten, sagte er in einem Interview. Jetzt sähen sie die Chance, auf all das aufmerksam zu machen.
Felix Maier-Lenz meint: „Schwarze Sportler empfinden genau so viel oder wenig Stolz wie weiße Sportler auf das, wofür ihre Symbole stehen – wollen aber deutlich darauf hinweisen, dass all diese Versprechungen, die das Konstrukt USA seinen Bürgern macht, für sie und andere Minderheiten schlicht nie galten und bis heute nicht gelten.“
Späte Entschuldigung
Wenn am 10. September die Football–Saison beginnt, wird mit ähnlich deutlichen Protesten wie in der NBA gerechnet. NFL-Boss Roger Goodell sagte der Washington Post: „Die NFL steht an der Seite der schwarzen Gemeinschaft, der Spieler, Clubs und Fans. Es ist essenziell, systemischen Rassismus mit greifbaren und produktiven Schritten zu konfrontieren. Wir werden in unserer Arbeit nicht nachgeben. Wir werden unsere Bemühungen verdoppeln, um ein Katalysator zu sein für den dringend notwendigen nachhaltigen Wandel, den unsere Gesellschaft so dringend braucht.“
Als Colin Kaepernick 2016 mit dieser Form des Protests anfing, hatte Goodell sich noch ablehnend geäußert. Heute nennt er es einen Fehler, nicht schon früher auf die Botschaft des Protests gehört zu haben. Amerika-Kenner Felix Maier-Lenz erklärt, wie Kaepernicks Knien bei der Hymne gemeint war: „Der Ausdruck des Wunsches, endlich auch gleichwertiger Teil der amerikanischen Gesellschaft sein zu dürfen.“
Amerika versteht das jetzt.