Mittenwald/München – Die Angst geht um. Das ist in den Tagen, bevor der neue Guide Michelin erscheint – immer noch der wichtigste Gourmet-Führer in Deutschland – normal. Doch in diesem Jahr drehen sich die Gedanken vieler Köche nicht um die begehrten Sterne. Die höchste Auszeichnung für die Stars am Herd. Das große Zittern vieler Gastronomen hat vielmehr mit der Sorge um ihre Existenz zu tun: Das Gastgewerbe in Deutschland hat im Jahr 2020 nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes rund 38 Prozent weniger umgesetzt als im Vorjahr.
Viele wissen nicht, wie es nach der monatelangen Zwangspause weitergehen soll. Branchenkenner vermuten, dass sich die Auswirkungen des Lockdowns erst in einigen Monaten bemerkbar machen. Noch können die staatlichen Hilfen die Umsatzverluste auffangen. Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband geht davon aus, dass jeder vierte Betrieb von der Insolvenz bedroht ist.
Ungeachtet der Pandemie erscheint am Freitag der Michelin-Führer. „Die deutsche Gastronomie ist der außergewöhnlichen Krise mit Kreativität, Mut und Leidenschaft entgegengetreten. Eine Herausforderung, die größten Respekt und Anerkennung verdient“, sagt Gwendal Poullennec. Er ist der internationale Direktor des Guide Michelin. Wie auch in den anderen Ländern, in denen der Gourmet-Führer bereits veröffentlicht wurde, war es Michelin wichtig, „dieser Leistung der Gastronomen“ gerecht zu werden.
Gwendal Poullennec erklärt das Prozedere im Corona-Jahr: „Unsere Inspektoren haben auch in diesen schwierigen Zeiten eine sorgfältig recherchierte Auswahl an Restaurants zusammengestellt, von deren hohem gastronomischen Niveau sie sehr beeindruckt waren.“ Einige Häuser hätten auf die Krise mit verkürzten Öffnungszeiten oder einer kleineren Speisekarte reagiert, ergänzte der Direktor des Guide Michelin für Deutschland und die Schweiz, Ralf Flinkenflügel. Das sei für die Bewertung aber kein Maßstab gewesen, „das haben wir akzeptiert“. In Bezug auf die Qualität seien jedoch keine Abstriche gemacht worden, versicherte er. „Ein Stern hat dieselbe Qualität wie die Jahre zuvor.“
Der Guide Michelin 2021 wird trotzdem eher ein Festschreiben des bisherigen Status quo sein und keine größen Veränderungen mit sich bringen, glauben Insider. Gerade mit dem Verlust eines Michelin-Sternes sei heuer kaum zu rechnen. Das war im Nachbarland Frankreich, der Mutter der Nouvelle Cuisine, nicht anders.
Auch wenn in der gehobenen Küche in diesem Jahr wenig Bewegung zu erwarten ist, fest steht schon jetzt, dass München zwei Sterne verliert: Küchenchef Hans Haas hat sich zum Jahresende in den Ruhestand verabschiedet. Der Münchner Gourmet-Tempel „Tantris“ ist geschlossen, zumindest vorerst. Derzeit wird das Lokal umgebaut, mit einer Wiedereröffnung ist nicht vor Sommer zu rechnen. Eine völlig neue „Tantris“-Mannschaft muss sich die Sterne dann erst wieder erkochen. Auf die jüngsten Veränderungen im „Schwarzreiter“ im Hotel Vier Jahreszeiten in München kann der Guide Michelin nicht mehr reagieren: Erst vor zwei Wochen, lange nach Redaktionsschluss, war bekannt geworden, dass sich Sterneköchin Maike Menzel in den Mutterschutz verabschiedet. Sie war vor zwei Jahren mit 29 Jahren die jüngste Sterneköchin Deutschlands. Frauen gehören nach wie vor in der Spitzenküche zur Minderheit.
Corona hat die Spitzenküche schon jetzt stark verändert: Essen zum Mitnehmen ist in der gehobenen Gastronomie heuer schlagartig salonfähig geworden. Diese Entwicklung findet im Guide Michelin (noch) keine Berücksichtigung. Nicht nur die einfacheren Gastwirtschaften und Lokale haben während des Lockdowns Essen zum Mitnehmen angeboten, auch im Fine-Dining-Bereich hat es Veränderungen gegeben: Menü-Boxen erfreuten sich gerade während des zweiten Lockdowns seit November großer Beliebtheit. Zahlreiche Sterne-Restaurants bieten spezielle Menüs für zu Hause an, wie der Mittenwalder Sternekoch Andreas Hillejan („Marktrestaurant“, 1 Stern) oder der Münchner Bobby Bräuer („EssZimmer“, 2 Sterne).
Mit den Mehr-Gänge-Menüs für die heimischen vier Wände konnten sogar neue Kunden gewonnen werden. Bei Bobby Bräuer kostet eine Box zwischen 80 und 90 Euro pro Person. Hillejan vermutet, dass 30 bis 40 Prozent der Kunden Gäste seien, die bislang nicht zum Publikum des Sterne-Restaurants gehörten. Gerade weil eine Box preisgünstiger sei als ein Besuch im Sterne-Restaurant. „Es ist erstaunlich, was für pfiffige Ideen innerhalb kürzester Zeit entstanden sind“, sagt Hillejan. Die Menüboxen zu Weihnachten, Silvester oder zum Valentinstag boomten. „Klar kann man damit nicht große Umsätze generieren, doch man bleibt im Geschäft“, sagt Hillejan.
Trotzdem ist Hillejan, der insgesamt zehn Mitarbeiter beschäftigt, froh, zusätzlich über ein zweites Standbein zu verfügen: Der Sternekoch ist in Mittenwald für die Verköstigung der Kindergärten und Schulen zuständig. „In normalen Zeiten kochen wir bis zu 200 Mahlzeiten am Tag.“
Jan Hartwig, Münchens einziger Drei-Sterne-Koch („Atelier“ im Hotel Vier Jahreszeiten), hat dagegen keine Außer-Haus-Gerichte angeboten. Der Küchenchef hat die Ruhe des Lockdowns genutzt, um neue Gerichte zu kreieren. „Ich bin seit über 20 Jahren pausenlos im Beruf und so eine Auszeit hatte ich noch nie“, sagt er. Wie es gerade in der Spitzengastronomie weitergeht, vermag derzeit niemand zu sagen. Es werden gravierende Veränderungen erwartet. Bislang waren auch Kongresse, Messen und Geschäftsreisen ein wichtiger Umsatzfaktor. Doch ob es all das in dem gleichen Maße wie vor der Pandemie noch geben wird, lässt sich derzeit nicht absehen.
Christian Jürgens, Drei-Sterne-Koch am Tegernsee („Überfahrt“), sieht der Zukunft gelassen entgegen: „Ich gehe davon aus, dass – sobald es wieder möglich ist, Restaurants zu besuchen – ein ähnlicher Ansturm stattfindet, wie auch schon nach dem vorhergehenden Lockdown.“ Der Hunger und Durst danach, Gastlichkeit und Kulinarik zu erleben, werde riesengroß sein. Die Menschen hätten den Wunsch nach der Rückkehr zur Normalität und dazu gehöre auch ein Restaurant-Besuch.