München – Als Martin Wieser, 52, Bauingenieur und Projektleiter bei der Bahn, das Tor 4 öffnet, flutscht doch hinter ihm tatsächlich ein Mann durch die riesige Einfahrt, die sonst nur Bagger und Betonmischer nutzen. „Halt, halt“, ruft Wieser und schickt den verirrten Fahrgast zurück. Der hätte sich wahrscheinlich auch gleich gewundert, dass er nicht am Bahnhof, sondern auf einer Großbaustelle gelandet ist. Denn direkt hinter dem Bahnhofsgebäude baggert sich die Bahn seit drei Jahren in die Tiefe.
Rückblick: Im Frühjahr 2019 zerbiss eine Baumaschine mit einer hydraulischen Riesen-Beißzange, die ein bisschen aussah wie das Maul eines Dinosauriers, Brocken für Brocken den sogenannten Schwammerl, also das Vordach zum Haupteingang des Bahnhofs. Danach sah man, dass die alte Schalterhalle des Bahnhofs Stück für Stück abgerissen wurde.
Das war der Auftakt zu einer Großbaustelle, die den Hauptbahnhof wohl die nächsten acht bis zehn Jahre prägen wird. Der Bahnhof soll komplett neu entstehen – ein Koloss aus Stahl und Glas, dem auch der altehrwürdige Starnberger Flügelbahnhof weichen muss. Mit Ausnahme der denkmalgeschützten Gleishalle wird alles abgerissen und neu gebaut. Das neue 35 Meter hohe Empfangsgebäude soll sieben Stockwerke haben: Gastronomie, Schließfächer, Büros – auch einen interreligiösen Raum der Stille für alle Religionen so wie am Flughafen wird es auf Wunsch der beiden Kirchen geben. Ein immer wieder zu lesendes Gerücht wird dagegen dementiert: „Konkrete Planungen für Flugtaxi-Landeplätze am Hauptbahnhof München bestehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.“
Lassen wir die Bahn den neuen Wunderbahnhof selbst erklären: „Das neue Empfangsgebäude aus der Feder des renommierten Büros Auer Weber ist ein architektonisches Highlight.“ Und: „Ruhezonen bieten Reisenden Platz für ein entspanntes Durchatmen, das moderne Wegeleitsystem sorgt für eine schnelle Orientierung.“ Klingt schön, ist aber noch längst nicht alles: In 40 Metern Tiefe wird die zweite Stammstrecke den Untergrund des Bahnhofs von West nach Ost durchbohren, es wird unter der Arnulfstraße einen neuen S-Bahnhof „Hauptbahnhof-Nord“ geben und irgendwann einmal auch eine neue U-Bahn-Station: Die Stadt München plant die Linien U9 und U29 – weshalb sie bei der Bahn in Auftrag gab, den viergleisigen U-Bahnhof im Rohbau gleich mit zu erstellen. Dafür entsteht dort, wo einst die Schalterhalle war, der sogenannte Nukleus, das unterirdische Zugangsbauwerk, für das Martin Wieser zuständig ist. Er kommt ursprünglich von Bilfinger & Berger, war danach dreieinhalb Jahre bei Qatar Rail im Wüstenstaat, wo er Bahnhöfe und Gleise baute. 2017 holte ihn die Deutsche Bahn als Projektchef für den Giga-Umbau des Hauptbahnhofs. Nun steht er hinter dem meterhohen Bauzaun auf der Baustelle. Matsch, Pfützen, Dieselgeruch – etwas weiter unten plätten Arbeiter den Kiesboden: Vorbereitungen für das Betonieren.
Seit drei Jahren baut die Bahn jetzt. In dieser Zeit entstand eine 55 Meter tiefe Schlitzwand. Ein massiver rechteckiger Betonkasten, der die gesamte Baugrube umgibt und sie gegen einströmendes Grundwasser wie auch gegen etwaige nachrutschende Kiesmassen schützt. „Das ist wie eine Badewanne, die ist dicht“, sagt Wieser. München steht ab fünf Metern Tiefe im Wasser – daher die Wand. Die Ausmaße sind enorm: Die Wand ist 1,5 Meter dick und wurde in 2,8 Meter langen Teilstücken gegossen. Insgesamt sind die vier Wände des Betonkastens 280 Meter lang. 1800 Tonnen Bewehrungsstahl wurden verbaut.
Der Betonkasten ist Wiesers erstes Werk. Es ist noch nicht vollendet, denn der Betonkasten muss noch größer werden, muss sich noch tiefer Richtung Westen in das jetzige Bahnhofsgebäude hineinfressen. Mit Helm und Gummistiefel geht es durch eine Seitentür raus aus der Baustelle und rein in den jetzigen Bahnhof. Mitten in der Haupthalle, neben dem sogenannten Service-Point, bleibt Wieser stehen. „Ab 2023 wird hier abgebaut“, sagt er. Hier –mitten im Bahnhof?
In der Tat wird es ab dem nächsten Jahr eng im Hauptbahnhof. Die Bahn benötigt mehr Platz. Sie wird sogar ein Teil des jetzigen Dachs abtragen, nicht den denkmalgeschützten Teil, sondern das sogenannte MAN-Dach über dem Querbahnsteig. Die DB-Information wird dafür verlegt, die Geschäfte müssen weg – die Gastromeile ist ja schon geräumt.
Mehr passiert am Bahnhof aber derzeit im Untergrund. Kaum bekannt: Der jetzige Bahnhof ist mit Schächten und Röhren unterkellert, unter den Gleisen gibt es drei Tunnel, die fast bis zur Paul-Heyse-Unterführung führen. Es ist stickig dort unten, Arbeiter verlegen Kabel. Die ganze Elektrik des Bahnhofs wird neu erfunden. Bei manchen der Uralt-Kabel wussten selbst die Elektriker nicht mehr, ob sie noch für etwas gut waren. Sie zwickten sie einfach ab und warteten, ob sich jemand beschwert.
Die Baustelle zieht das Fachpublikum an. „Wir haben ganz viele Anfragen von Studenten“, berichtet Isabel Dresel von der DB-Kommunikationsabteilung. In Deutschland hat sich herumgesprochen, dass da in München Großes entsteht. Eben erst waren welche von der Hochschule in Buxtehude da. Sie können draußen auf der Baustelle im Freien auch schon Arbeiten für die Ebene „minus 2“ besichtigen. Das ist quasi das zweite Untergeschoss für die späteren Tiefbahnhöfe der S- und U-Bahn. Stück für Stück wird sie derzeit betoniert. Danach soll das Stockwerk darüber entstehen, also die Ebene „minus 1“, die etwa auf Höhe der Straße liegen wird. Und danach, wohl ab 2023, wird es in die Tiefe gehen – der spätere Stammstreckenbahnhof wird 40 Meter tief ausgeschachtet.
Das liegt in der Zukunft. Offiziell soll die zweite Stammstrecke 2028 fertig sein, der neue Hauptbahnhof nach offiziellen Angaben etwa zeitgleich, aber das erscheint unrealistisch. Es könnte wohl bis in die frühen 2030er-Jahre dauern. Frage an Martin Wieser. Auf einer Skala von eins, Baubeginn, bis zehn, Fertigstellung – wo stehen Sie da mit den Bauarbeiten? „Bei zwei.“
Baustellenführungen
Buchungen unter www.2.stammstrecke- muenchen.de – die nächste findet am 24. Juni statt.