Bozen – Lange war der Pragser Wildsee vor allem eins: ein geschütztes Naturdenkmal im Südtiroler Naturpark Fanes-Sennes-Prags. Und ein idyllischer Bergsee wie aus dem Bilderbuch, dem Einheimische und Touristen im Pustertal gleichermaßen gerne einen Besuch abstatteten. Doch seit auf den sozialen Medien die Postkartenfotos des malerischen Stegs um die Welt gehen und der See vor gut zehn Jahren als Filmkulisse für die italienische Fernsehserie „Un passo dal cielo“ (Die Bergpolizei) mit Terence Hill in der Hauptrolle diente, ist es mit der Ruhe vorbei. Bis zu 10 000 Menschen lockt der See ins Tal – pro Tag. Eine Touri-Hölle, weil jeder Italiener den Schauplatz einmal gesehen haben will. Die Behörden haben mittlerweile reagiert und zu Stoßzeiten eine Autosperre für das Tal verfügt.
Nicht nur dort nehmen die Touristenmassen überhand. 2019, ein Jahr vor der Pandemie, zählte der Touristenmagnet Südtirol mehr als 34 Millionen Übernachtungen. Zum Vergleich: „Das sind rund zwei Millionen mehr als in ganz Griechenland“, wie Landesrat Arnold Schuler vorrechnet, der für die Südtiroler Volkspartei (SVP) in der autonomen Provinz für die Themen Land- und Forstwirtschaft und den Tourismus zuständig ist. Die meisten Gäste kommen im Sommer, rund zwei Drittel der Touristenankünfte werden von Mai bis Oktober gezählt. Den größten Anteil machen Gäste aus Deutschland aus, gefolgt von Urlaubern aus Italien selbst. Letztere bevölkern insbesondere im August die kühleren Bergtäler. Und das am liebsten im Pustertal.
Landesrat Schuler sagt, so geht es nicht weiter. „Die Grenze ist erreicht. Südtirol muss für Touristen, aber auch Einheimische ein attraktives Land bleiben. Wir sind am Limit. Mehr geht nicht mehr.“ Er hat deshalb das „Entwicklungskonzept 2030+“ erarbeitet. Der Landesrat wollte mit einem strikten Bettenstopp den Tourismus reglementieren. Im Frühsommer hatte die Südtiroler Landesregierung angekündigt, die Bettenobergrenze einführen zu wollen. Die Bettenzahl für touristische Übernachtungen sollte auf dem Niveau von 2019 – dem bisherigen Rekordjahr – eingefroren werden. Nur noch 150 Betten pro Betrieb sollten künftig erlaubt sein. Daraus wird vorerst nichts – der Plan ist vor allen an den SVP-Landwirten gescheitert.
Wie die Gesetzgebungskommission in der vergangenen Woche beschlossen hat, soll es zunächst eine Erhebung der vorhandenen Betten geben. Erst dann solle wieder über eine Obergrenze diskutiert werden. Bis das so weit ist, können weitere zwei Jahre ins Land gehen. Doch die Debatte läuft weiter.
Tourismus hat in Südtirol eine lange Tradition, 50 Jahre in Folge ist die Zahl der Übernachtungen stetig angewachsen. Um das Jahr 1800 begannen sich in Südtirol die ersten Kurorte und Heilbäder zu entwickeln. Ab den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts begann sich der Tourismus von den Kriegsfolgen zu erholen. Bis er im Sommer vor dem Corona-Ausbruch seinen Höhepunkt erreichte.
Am Eurac Center for Advanced Studies in Bozen wurde vor drei Jahren die Beobachtungsstelle für nachhaltigen Tourismus gegründet – „um datenbasiert die richtigen Entscheidungen zu treffen“, erklärt dessen Leiter Harald Pechlaner. Die Studie soll als Grundlage für Südtirols neues Tourismuskonzept dienen. „Es wird eine Gratwanderung werden“, ist sich der Tourismus-Experte sicher. Pechlaner ist einer der schärfsten Kritiker der aktuellen Situation in Südtirol, die oft mit dem neudeutschen Wort „Overtourism“ (Übertourismus) bezeichnet wird. Jetzt ist Nachhaltigkeit gefragt, auch im Tourismus.
Die Krux: „Tourismus ist eine der treibenden Kräfte der Südtiroler Wirtschaft“, rechnet das Institut für Wirtschaftsforschung in seinem jüngsten Bericht vor: In mehr als 10 000 Beherbergungsbetrieben stünden den Touristen über 220 000 Betten zur Verfügung.
Noch sind die Übernachtungszahlen von 2019 nicht erreicht – „wir sind im Frühsommer bei Weitem nicht an die Auslastung von einst herangekommen“, betont Manfred Pinzger. Er ist in Südtirol der Präsident des Hoteliers- und Gastwirteverbandes (HGV). „Der Markt wird vieles von selbst regeln“ – so argumentiert er gegen behördliche Eingriffe.
Pinzger ärgert sich zudem, „dass jetzt viele Probleme Südtirols dem Tourismus in die Schuhe geschoben werden“. Insbesondere was den Verkehr angeht. Der HGV-Präsident ist überzeugt: „Der Verkehr ist ein hausgemachtes Problem.“ Nicht nur die Touristen selbst verstopften die Straßen. „Das Ganze ist populistisch hochgespielt.“ Es gebe andere Möglichkeiten, in die weitere Entwicklung des Tourismus einzugreifen. Pinzger denkt in erster Linie an den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel und das Forcieren regionaler Produkte.
Nach der Pandemie soll nun also ein Neuanfang gemacht werden. „Wir wollen nach wie vor ein Tourismusland sein“, betont auch Schuler. „40 000 Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt mit Touristen“, sagt Manfred Pinzger. „Das ist annähernd jeder zehnte Einheimische.“
In Zukunft will Südtirol deshalb auf nachhaltiges Wachstum setzen. Dazu gehört zunächst, dass jede Gemeinde für sich erhebt, wie viele Betten in ihrem Gebiet vorhanden sind. Erst dann wolle man erneut über eine Bettenobergrenze sprechen.
Was Manfred Pinzger dabei besonders ärgert: Gäste, die Urlaub auf dem Bauernhof- machen, werden bei der Berechnung der Beherbergungskapazitäten auch künftig nicht mitgezählt. „Es ist nicht nachvollziehbar, warum diese Betriebe bei der Erhebung ausgenommen werden sollen“, schimpft der HGV-Präsident.
Doch der Umgang mit den Bauern und ihren eigenen Steuergesetzen und Bauregeln ist in Südtirol wieder ein eigenes Thema für sich. Die Landwirte haben dort eine starke Lobby – gegen die sich niemand auflehnen will.