München – Die Betroffenen kommen leicht außer Atem, klagen über Husten, Kopfschmerzen oder diffuse Symptome wie Schlafstörungen, Abgeschlagenheit und Schwäche bis hin zu bleierner Müdigkeit, manche auch über depressive Verstimmungen. Andere entwickeln Erkrankungen wie Diabetes, Herzmuskelentzündungen oder gar einen Schlaganfall. Zuweilen könnte man meinen, das Coronavirus wäre in der Lage, sämtliche verbreiteten Krankheiten zu verursachen.
Aber gehen die Komplikationen immer auf Corona zurück? Weil etliche Beschwerden auch unabhängig von Corona häufig vorkommen, fällt eine eindeutige Zuordnung schwer, und die Meinungen auch in der Forschung liegen oft weit auseinander. Das fängt schon bei der Häufigkeit an. Die Angaben bewegen sich zwischen 5 bis 50 Prozent Long Covid nach einer Corona-Infektion. Die WHO schätzt, dass in den ersten beiden Pandemiejahren in Europa mehr als 16 Prozent unter Langzeitfolgen litten oder noch leiden.
Studien deuten darauf hin, dass Long Covid nach einer Infektion mit Omikron seltener auftritt als bei früheren Varianten. Die nächste schwierige Frage ist, wer ein erhöhtes Risiko hat. Gesundheitliche Probleme in der Vorgeschichte könnten Faktoren sein – und am Ende auch die Schwere des Verlaufs. So kommt eine Studie aus Schottland auf der Basis der Daten von knapp 100 000 Menschen zu dem Ergebnis, dass Menschen, die wegen ihrer Corona-Infektion im Krankenhaus behandelt werden mussten, am stärksten unter Long Covid litten.
Dass die Genesung dauern kann, ist kein exklusives Merkmal von SARS-CoV-2. Auch eine Influenza kann wochenlange Mattigkeit, eine Herzmuskelentzündung oder Diabetes nach sich ziehen. Eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus kann wie Covid-19 zu dauerhafter Erschöpfung führen; der Fachbegriff dafür heißt Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue Syndrom (ME/CFS). Einige Fachleute vermuten sogar, dass sich Long Covid auf eine Reaktivierung schlummernder Epstein-Barr-Viren im Körper zurückführen lässt.
Eine Besonderheit bei Long Covid ist, dass es viele Gesichter hat. Zunehmend neigt die Wissenschaft deshalb zu der Annahme, dass es mehrere Arten von Long Covid gibt. „Wir müssen verstehen, dass Long Covid nicht nur eine Sache ist“, sagt David Putrino, Neurowissenschaftler vom Mount Sinai Health System New York. Grob einteilen lassen sich die Formen in schwere Erschöpfungszustände, in Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, in durch Blutgerinnsel ausgelöste Erkrankungen, in Lungenschäden sowie in Folgeerkrankungen wie etwa Diabetes.
Als eine der häufigsten Formen hat sich das chronische Erschöpfungssyndrom ME/CFS herauskristallisiert, das bei Covid eher nach milden bis moderaten Verläufen auftritt. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen zwischen 20 und 60. Lungenschäden dagegen können eine Folge sein, wenn Menschen mit schweren Verläufen klinisch behandelt werden mussten; für die gleiche Gruppe soll auch das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Herzschwäche deutlich erhöht sein, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie der Queen Mary University London ergab.
Das große Problem bei der Diagnostik ist bisher das Fehlen von Biomarkern – Werten im Blut oder bestimmten Strukturen, die etwa bei einer Gewebeuntersuchung Gewissheit geben könnten. Nicht selten lässt sich bei Long Covid körperlich gar nichts nachweisen. Deshalb wird intensiv nach solchen Biomarkern geforscht.
Einer scheint aufgespürt zu sein: Forschende der Yale University in den USA entdeckten im Blut Betroffener erschöpfte T-Zellen, was dafür spricht, dass diese Abwehrzellen dauerhaft stimuliert werden, zum Beispiel durch vorhandene Coronaviren oder reaktivierte andere Viren wie Epstein Barr oder Herpes.
Essentiell für eine gezielte Therapie ist es zudem, die der Krankheit zugrunde liegenden Mechanismen zu finden. Dazu gibt es bereits Ansätze – wobei sich abzeichnet, dass die verschiedenen Formen von Long Covid auch verschiedene Ursachen haben. Die harmloseste: Beschwerden, die nur wenige Wochen anhalten, könnten davon herrühren, dass der Körper einfach noch Zeit braucht, um sich zu erholen.
Länger andauernde Symptome lassen sich damit nicht erklären. Bei einem Teil dürften Entzündungsprozesse der Grund sein – die wiederum verschiedene Ursachen haben können: etwa eine überschießende Immunreaktion, die auch mit der Bildung von Autoantikörpern einhergehen kann, die dann eigenes Gewebe attackieren. Eine weitere Theorie lautet, dass es zur Aktivierung von Mastzellen – Zellen der Körperabwehr – kommt, die dann Botenstoffe wie Histamin freisetzen, was eine Vielzahl von Symptomen auslösen kann.
Ebenfalls als Entzündungsauslöser im Gespräch ist frei zirkulierende Virus-RNA, also Bruchstücke des Erbguts von SARS-CoV-2 im Blutkreislauf. Forschende aus China stellen in einer Ende September veröffentlichten Studie die These auf, dass die innerste Schicht der Blutgefäße, das Endothel, durch eine überschießende Immunreaktion geschädigt wird; so ließe sich auch erklären, warum viele verschiedene Gewebe und Organe in Mitleidenschaft gezogen werden können. Als weitere Mechanismen werden die Bildung winziger Gerinnsel diskutiert, die den Blutfluss stören und dem Gewebe im Körper Sauerstoff entziehen, sowie eine chronische Infektion – verursacht durch Viren, die im Körper verbleiben, weil der sie nicht beseitigen kann.
Vor diesem Hintergrund wird auch die Impfung als Mittel zur Linderung diskutiert. Einen Schutz vor Long Covid bietet sie nicht, Studien deuten aber auf eine Verringerung des Risikos hin.
Die Auswirkungen auf das Gehirn nehmen eine Sonderstellung ein. Eine zentrale Frage ist, ob die Probleme vom Virus direkt herrühren. Möglich wäre auch eine starke Aktivierung von Immunzellen im Gehirn. Carl Samudyata vom schwedischen Karolinska-Institut schreibt im Magazin „The Conversation“ von einer Studie seines Teams, wonach das Virus im Laborversuch mit Gehirn-Organoiden (künstlich erzeugten Strukturen, die denen in den Gehirnen kleiner Kinder ähneln) Synapsen zwischen Gehirnzellen zerschnitt.
Andere Studien betonen eher die psychische Komponente als Ursache von Long Covid. Eine Studie stammt von der Universitätsmedizin Essen; hier stellten die Forscher fest, dass bei 80 Prozent der Studien-Patienten die neurologische Untersuchung unauffällig gewesen sei, dafür psychiatrische Vorerkrankungen wie eine Depression oder eine Angststörung das Risiko für Long Covid deutlich erhöht haben. Auch seien Menschen mit akademisch qualifizierten Berufen oder aus dem Verwaltungs- und Lehrbereich häufiger vertreten als Berufe mit körperlicher Aktivität. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen zwei aktuelle Studien aus den USA und aus Hamburg. Letztere erkannte in der Erwartung von Symptomen einen Risikofaktor für Long Covid.
Da die Suche nach den Mechanismen zwar Erklärungen, aber noch wenig handfeste Belege und Biomarker geliefert hat, fehlen bislang Medikamente, mit denen die Beschwerden gezielt behandelt werden können. Deshalb wird derzeit ein wahres Potpourri an Arzneimitteln ausprobiert, etwa Medikamente gegen Entzündungen, gegen übermäßige Reaktionen des Immunsystems, Kortison oder Blutverdünner gegen Mikrothrombosen. Auch Blutwäsche wird als Therapie getestet.
Vermutlich gibt es nicht die eine Therapie. Neurowissenschaftler David Putrino sagt dazu: „Die Suche nach einer Heilung für Long Covid ist dasselbe wie die Suche nach einer Heilung für Krebs. Wir haben keine einzigartige Heilung für Krebs, wir haben viele gezielte Behandlungen.“
Long Covid hat
viele Gesichter
Impfung senkt das Risiko
Auch die Psyche spielt eine Rolle