Der Knockout aus dem Internet

von Redaktion

VON SEBASTIAN HORSCH

München – Eigentlich wollte Livia Kerp den Shot (also ein Stamperl) gar nicht annehmen, den ihr ein Kellner in einem angesagten und bekannten Münchner Club spendierte. „Ich hatte für den nächsten Tag etwas ausgemacht und wollte deshalb nicht zu viel trinken“, sagt die 21-jährige Münchnerin. „Aber er hat dann sehr drauf gedrängt.“ Sie gab nach. „Ich dachte mir: Egal, ein Shot geht schon.“ Wenige Minuten später ging es los.

Angefühlt habe es sich, wie „ruckartig sturzbesoffen“ zu werden – aber ohne vorher viel getrunken zu haben. „Es steigt plötzlich in einem hoch.“ Im Kopf sei sie zunächst noch ziemlich klar gewesen, habe aber gespürt, wie ihr Körper ihr nicht mehr folgte. „Ein total beängstigendes Gefühl.“ Livia Kerp bat ihre Freundinnen, mit ihr nach draußen zu gehen. „Innerhalb von Minuten lag ich auf dem Boden.“ Danach erinnert sie sich an nichts mehr.

Ihre Freundinnen erzählen ihr später, dass ein anderer Freund sie zufällig gesehen habe, wie sie da vor dem Club lag. Er bot an, sie nach Hause zu bringen. Doch plötzlich sei der Kellner wieder dazugestoßen und habe behauptet, er habe bereits mit der jungen Frau ausgemacht, dass er sie heimbegleite. Der Freund ging nicht darauf ein – mutmaßlich zu Livia Kerps großem Glück. Denn sie ist sich sicher: Ihr wurden K.o.-Tropfen ins Getränk gemischt.

Der Opferschutzverein Weißer Ring berichtet in seiner Mitgliederzeitschrift von Fällen, die weniger glimpflich ausgingen. Eine Frau, die nach einem Partyabend frühmorgens in einem Münchner Park zu sich kam – ohne Erinnerung und mit dem Slip in den Kniekehlen. Eine 18-Jährige, der auf ihrem Abiturball K.o.-Tropfen verabreicht wurden und die sich an den anschließenden Geschlechtsverkehr, den die Ärzte nachweisen konnten, nicht erinnert. Eine Frau in Kiel, die bei vollem Bewusstsein mitbekam, wie zwei Männer sie missbrauchten und das auch noch mit dem Handy filmten – doch sie konnte sich nicht bewegen oder gar wehren.

Auch Laura Kößler, Moderatorin bei Radio Gong 96.3, wurde im April zum Opfer – und machte das öffentlich. „In Sekundenschnelle wurde mir schwindlig, und ich konnte kaum mehr stehen. Glücklicherweise konnte ich mir noch ein Taxi bestellen und hab es bis nach Haus geschafft“, berichtete sie. Ihr Sender startete gemeinsam mit Münchner Bars die Kampagne „Lass dein Glas nicht allein“. In Clubs hängen Plakate, und der Sender spielt an den Wochenenden einen Spot, um auf das Thema aufmerksam zu machen. „Wir wollten den Leuten etwas mitgeben“, sagte Natalie Diehl, ebenfalls Moderatorin bei Gong 96.3, unserer Zeitung.

Was genau K.o.-Tropfen sind, ist nicht eindeutig definiert. Verschiedene Drogen und Substanzen können gemeint sein, oft geht es um Gammahydroxybutyrat (GHB), das auch als Liquid Ecstasy bekannt ist – oder als Vergewaltigungsdroge. Die konkrete Wirkung ist individuell sehr unterschiedlich und hängt unter anderem davon ab, ob zusätzlich Alkohol getrunken oder andere Drogen konsumiert wurden.

In der Regel sind die Opfer über mehrere Stunden bewusstseinsgetrübt – oder sogar schwer komatös. Sie haben keine Kontrolle über ihr Verhalten und können sich später meist nicht erinnern. Überdosiert kann GHB auch eine Atemlähmung verursachen und sogar zum Tod führen. Da die Tropfen farb- und geruchlos sind, lassen sie sich leicht in Getränke mischen.

GHB unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz und ist deshalb auf legalem Weg schwer erhältlich. Anders sieht es bei der ebenfalls geschmacks- und geruchsneutralen Chemikalie Gamma-Butyrolacton (GBL) aus – die im Körper zu GHB verstoffwechselt wird. Obwohl die Wirkung damit sehr ähnlich ist, ist der Besitz von GBL nicht strafbar. Man kann den Stoff auf einschlägigen Internetseiten kaufen – 149,90 Euro für 125 Milliliter GBL sind ein Angebot, wenn man dort nach K.o.-Tropfen sucht. Zudem ist GBL unter anderem auch in Lösungsmitteln und Fleckenentfernern enthalten. Alles frei verfügbar, teils auch kanisterweise.

Stephan Pilsinger (CSU) würde das gerne ändern. Der Münchner Bundestagsabgeordnete hat für die Unionsfraktion einen Antrag verfasst, der von der Bundesregierung eine strengere Regulierung von GBL fordert. Eine Anhörung im zuständigen Bundestagsausschuss sei positiv verlaufen. „Ich habe das Gefühl, dass die Erkenntnis gereift ist, dass man hier etwas tun muss, um Frauen zu schützen“, sagt Pilsinger. Auch Livia Kerp hofft auf ein Verbot solch frei verkäuflicher Substanzen. „Das wäre ein großer Schritt“, sagt sie.

Die Bundesregierung verwies zuvor noch auf die Rechtslage: GBL unterliege dem freiwilligen europäischen Monitoring – im Rahmen der Grundstoffüberwachung –, einer freiwilligen Zusammenarbeit von Industrie und Handel mit den zuständigen Behörden. Dieses System verzeichne „gute Ergebnisse in Bezug auf die Kontrolle der Herstellung und des Verkehrs mit solchen Stoffen in Deutschland“, schreibt Staatssekretär Edgar Franke (SPD) in der Antwort des Gesundheitsministeriums auf eine Anfrage von Pilsinger. Zudem betont Franke: „Die missbräuchliche Verwendung von GBL oder von anderen Substanzen als K.o.-Tropfen ist strafbar, etwa als gefährliche Körperverletzung, im Fall von sexuellen Handlungen an der betäubten Person darüber hinaus als sexueller Übergriff.“ Das Problem: Im Körper ist die Substanz nicht lange nachweisbar: im Blut etwa sechs Stunden, im Urin nur acht bis zwölf Stunden nach Verabreichung. Wer es also nicht zeitnah in eine Klinik schafft, sondern erst mal seinen vermeintlichen Rausch ausschläft, verpasst die Chance, Beweise zu sichern. Deshalb gibt es keine verlässliche Statistik darüber, wie viele Menschen jährlich Opfer von K.o.-Tropfen werden (siehe auch Artikel unten).

Auch Livia Kerp wurde an jenem Abend in Münchens Innenstadt nicht ins Krankenhaus gebracht. „Leider“, sagt sie – „denn dann hätte man etwas schwarz auf weiß und etwas dagegen tun können“. So habe sie keine Beweise und sei auch deshalb nicht zur Polizei. „Ich wollte dort nicht begründen müssen, warum ich überhaupt hier bin – und am Ende heißt es noch, ich wolle nur irgendeinen Club fertigmachen.“ Ihrem Freund macht sie keinen Vorwurf, dass er mit ihr nicht in die Notaufnahme gefahren ist. „Ich wurde sicher nach Hause gebracht“, sagt sie. Andere Frauen nicht.

Artikel 2 von 3