Helmut Schmidt (SPD) will 1982 mit der Vertrauensfrage Ruhe in der Koalition einkehren lassen. © Steiner/dpa
Helmut Kohl (CDU) strebt im Dezember 1982 Neuwahlen an, um seine Macht zu festigen. © Sanden/dpa
SPD-Bundeskanzler Willy Brandt stellt 1972 in Bonn die Vertrauensfrage und will sie verlieren. © dpa
Rummel um SPD-Kanzler Schröder: Er stellt 2001 erstmals die Vertrauensfrage, geknüpft an eine Sachfrage. Er gewinnt sie. 2005 verliert er die Vertrauensfrage und die SPD die Neuwahlen. © Faßbender/Bundespresseamt
München – Nach knapp drei Jahren Ampel-Koalition geht es nicht mehr. Das Dreierbündnis aus SPD, Grüne und FDP hat für den Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) keine Zukunft mehr. Am 6. November 2024 tritt er mit zwei Kernbotschaften vor die Öffentlichkeit: FDP-Finanzminister Christian Lindner werde entlassen, er habe zu oft „mein Vertrauen gebrochen“, sagt Scholz. Und er selbst werde die Vertrauensfrage stellen.
Am Montag ist es so weit: Mit Scholz erfragt ein Kanzler zum sechsten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik das Vertrauen des Parlaments. Die Beweggründe waren in der Vergangenheit ganz unterschiedlich. Ein Überblick.
September 1972: Willy Brandt (SPD)
Kanzler Willy Brandt ist sichtlich nervös. Er wischt sich den Schweiß von Gesicht und Händen – zweimal. Als am 22. September 1972 um 18.42 Uhr das Ergebnis der Vertrauensfrage verlesen wird, will Brandt nur eines: verlieren. Es gelingt ihm. 248 Stimmen gegen ihn, 233 für ihn.
Für Brandt ist die Vertrauensfrage ein Weg aus einer politischen Patt-Situation. Ein Misstrauensvotum der CDU/CSU gegen ihn war gescheitert. Vor allem seine Ostpolitik der Annäherung inklusiver Zugeständnisse und die Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze an der Oder-Neiße-Linie sorgt sogar in der eigenen Koalition aus SPD und FDP für Verwerfungen. Abgeordnete beider Parteien verlassen die sozialliberale Koalition. Sowohl Koalition als auch Opposition haben keine Mehrheit mehr. Und dann gibt es da noch eine Blockade des Haushalts.
Er wolle den Weg für Neuwahlen frei machen, „damit die Vertrauensfrage erneut an den Wähler gestellt werden kann“, erklärt Brandt damals. Kritiker werfen Brandt vor, dass eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage nicht der Sinn des Artikels im Grundgesetzes sei. Doch für Brandt hat es sich ausgezahlt, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Vertrauensfrage auszurufen: Die SPD erreicht bei der vorgezogenen Wahl im November ihr bis heute bestes Ergebnis – 45,8 Prozent.
Februar 1982: Helmut Schmidt (SPD)
Zehn Jahre später ist es wieder ein SPD-Kanzler, wieder eine sozialliberale Koalition. Die Weltwirtschaftskrise ist auch in Deutschland zu spüren: Die deutsche Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosigkeit steigt. In dem Bündnis sorgt der wirtschaftspolitische Kurs von Helmut Schmidt für Unmut. Zudem regt sich in den eigenen Reihen Widerstand gegen den Nato-Doppelbeschluss. Dieser sieht zwar eine Abrüstung zwischen den USA und der Sowjetunion vor – aber auch die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa, sollte das Abkommen scheitern.
Schmidt stellt die Vertrauensfrage, weil er sich innerhalb der Koalition ein „Signal der Klarheit“ erhoffe, erklärt er am 5. Februar 1982. Er will sie gewinnen, damit Ruhe im Bündnis einkehrt. 269 Abgeordnete sprechen Schmidt das Vertrauen aus, 226 nicht.
Doch Ruhe kehrt nicht ein. Ein halbes Jahr später zerbricht die Koalition aus SPD und FDP. Der damalige FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff legt eine Reihe von Vorschlägen für eine „Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ vor – für die SPD unvereinbar, eine Art „Scheidungsbrief“. Knapp eine Woche später treten vier FDP-Minister zurück. Und Schmidt wird durch ein konstruktives Misstrauensvotum der Opposition am 1. Oktober gestürzt. Der neue Kanzler Helmut Kohl (CDU) bildet mit der FDP eine Koalition.
Dezember 1982: Helmut Kohl (CDU)
Helmut Kohl ist gerade einmal ein paar Wochen als neuer Kanzler im Amt. Doch um Deutschland aus der „schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland“ zu führen, brauche er einen „entschiedenen Wählerauftrag“, erklärt Kohl. Er will die Vertrauensfrage stellen, sie verlieren und damit gestärkt aus den Neuwahlen gehen.
Es gibt erhebliche Bedenken vor allem aus Reihen der FDP. Nach vier Stunden Debatte steht das Ergebnis fest: Die Mehrheit der Abgeordneten (248) enthält sich, 218 entziehen Kohl das Vertrauen, acht stimmen für ihn.
Als am 6. Januar 1983 der Bundestag aufgelöst wird, reichen vier Bundestagsabgeordnete – zwei von der FDP, einer von der Union und ein fraktionsloser – Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Der Vorwurf: Kohl stellte eine „unechte“ Vertrauensfrage. Die Verfassungsrichter billigen zwar Helmut Kohls Vorgehen, verweisen aber auch darauf, dass die Vertrauensfrage eigentlich nur in „echten“ Krise zulässig sei.
Letztlich profitiert Kohl von der Vertrauensfrage: Bei der Wahl im März 1983 wird die Union mit 48,8 Prozent stärkste Kraft.
November 2001: Schröder (SPD)
Nachdem in puncto Vertrauensfrage fast 20 Jahre Ruhe eingekehrt war, bittet der SPD-Kanzler Gerhard Schröder zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik um das Vertrauen des Parlaments.
Denn nach den Anschlägen am 11. September 2001 und der Frage nach einer deutschen Beteiligung an Anti-Terror-Einsätzen in Afghanistan kommt die rot-grüne Koalition an ihre Grenzen. Kanzler Schröder ist für eine Beteiligung der Deutschen Bundeswehr, doch Abgeordnete von SPD und Grüne zeigen sich kritisch.
Schröder nutzt die Vertrauensfrage als Machttest, knüpft sie erstmals an eine konkrete Sachfrage. Es sei „unabdingbar“, dass sich der Kanzler bei einer Entscheidung von „solcher Tragweite“ auf die Mehrheit in der eigenen Koalition stützen könne, erklärt er.
Mit 336 Ja-Stimmen erreicht Schröder zwei Stimmen mehr als die erforderliche absolute Mehrheit. 326 entziehen dem SPD-Kanzler das Vertrauen. Das Ergebnis ist knapp, Schröders Erleichterung groß.
Juli 2005: Gerhard Schröder (SPD)
Die SPD befindet sich 2005 in einer Krise. Die Hartz-IV-Reformen von Kanzler Gerhard Schröder treiben die Menschen auf die Straße und bescheren der SPD bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen Niederlagen. Schröder ist sich einer Mehrheit nicht mehr sicher, setzt auf die Vertrauensfrage, um Neuwahlen herbeizuführen. Wie geplant verliert er – allerdings nicht nur die Vertrauensfrage, sondern auch die Neuwahlen im September 2005. Die SPD unterliegt der Union mit 34,2 Prozent zu 35,2 Prozent. Es ist das Ende der rot-grünen Ära und der Beginn der Angela-Merkel-Ära.