Den Nazi-Jägern läuft die Zeit davon

von Redaktion

Oberstaatsanwalt Thomas Will leitet die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen. © Zentrale Stelle

KZ-Sekretärin Irmgard F. © EPA

Kriegsverbrecher: Josef Scheungraber ließ Zivilisten erschießen. © Unfried (2)

John Demjanjuk vor Gericht.

Die Schande von Sobibor: Eine Gruppe von KZ-Wachmännern posiert auf dem Exerzierplatz vor dem Todeslager. Vorne in der Mitte liegt vermutlich John Demjanjuk, den die Zentrale Stelle rund 65 Jahre später vor Gericht brachte. © dpa

Ludwigsburg/München – Schwach und gebrechlich wirkt John „Iwan“ Demjanjuk, als er 2009 im Rollstuhl in den Gerichtssaal geschoben wird. Schiebermütze, Sonnenbrille, grüner Mantel. Der alte Mann macht einen harmlosen Eindruck. Doch der Schein trügt: Der 89-jährige gebürtige Ukrainer soll laut Anklage während des Zweiten Weltkriegs als Aufseher im Todeslager Sobibor in „alle Stadien des Vernichtungsprozesses“ eingebunden gewesen sein. Wegen Beihilfe zum Mord an 28 060 Menschen verurteilt ihn das Landgericht München II zu fünf Jahren Haft – ein Novum in der deutschen Justizgeschichte, da ihm außer seiner Arbeit als Aufseher im KZ kein konkretes Verbrechen wie die Erschießung von Juden nachgewiesen werden kann.

Grundlage für das historische Urteil waren die Ermittlungen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Bevor es rechtskräftig wird, stirbt Demjanjuk mit 91 Jahren. Die Zeit hat ihn gerettet. Mit diesem Problem sehen sich die Ermittler in Ludwigsburg immer häufiger konfrontiert. 80 Jahre nach Kriegsende sind die jüngsten möglichen Täter, die 1945 als 17-Jährige Teil der Todesmaschinerie wurden, 97 Jahre alt. Oberstaatsanwalt Thomas Will, Leiter der Zentralen Stelle, geht deshalb davon aus, dass die Verfolgung von NS-Verbrechern in wenigen Jahren ein Ende finden wird.

„Wir haben den Auftrag durch die Justizministerkonferenz, dass wir tätig sind, solange es noch verfolgbare Personen gibt. Das ist noch der Fall im Moment, aber das wird natürlich zwangsläufig nicht mehr unzählige Jahre weitergehen“, erklärt Will. Noch aber läuft die Jagd. NS-Täter aufzuspüren, ist aufwändige Arbeit: Die Mitarbeiter der Zentralen Stelle recherchieren oft jahrelang und arbeiten mit internationalen Behörden zusammen. Um Demjanjuk festzusetzen, flog Kurt Schrimm, damals Leiter der Zentralen Stelle, 2003 nach Washington. Dort ermittelte er mit US-Kollegen vom Office for Special Investigations (OSI) gegen Demjanjuk, der ein ruhiges Rentnerleben in Seven Hills, Ohio, führte. Das OSI hatte bereits wichtige Vorarbeit geleistet: „Demjanjuk, John, geboren 1920 in Dubowi Mascharynzi“, stand in der Akte, die sie den Mitarbeitern der Zentralen Stelle überreichten.

Um das Nachkriegsschicksal der Verdächtigen zu klären, ist das Geburtsdatum ein wichtiger Hinweis. Besonders, wenn der mutmaßliche Täter einen typisch deutschen Namen wie Heinrich Meier habe, sei es ohne Geburtsdatum fast unmöglich, etwas über sein weiteres Leben herauszufinden, erklärt Will. Oft seien nur die Nachnamen oder Initialen von KZ-Wachmännern überliefert. So scheitern viele Ermittlungen bereits im Anfangsstadium.

Wenn aber ein mutmaßlicher NS-Täter wie Demjanjuk aufgespürt werden kann und es ausreichend Hinweise auf Verbrechen gibt, wird er des Mordes oder zumindest der Beihilfe angeklagt. Denn: „Mord verjährt nicht, das ist die Grundlage, auf der wir heute noch arbeiten und ermitteln“, erklärt Will. „Es muss aber natürlich auch die Verhandlungsfähigkeit gegeben sein.“

Die war bei Demjanjuk, der meist von der Krankenliege oder vom Rollstuhl aus am Prozess teilnahm, eingeschränkt – die Verhandlungsdauer wurde deshalb auf drei Stunden täglich begrenzt. In anderen Fällen führt der schlechte Zustand der Verdächtigen dazu, dass es gar nicht zur Anklage kommt: „Wir haben 30 Verfahren gegen Wachleute des Konzentrationslagers Auschwitz 2013 an verschiedene Staatsanwaltschaften abgegeben. Fünf der 30 Beschuldigten wurden angeklagt und von diesen fünf wurden zwei verurteilt. Alle anderen waren schon verhandlungsunfähig oder verstorben“, erzählt Oberstaatsanwalt Will.

Die letzte Verurteilung, die auf Ermittlungen der Zentralen Stelle zurückgeht, datiert vom Dezember 2022. Irmgard F., die von 1943 bis 1945 als junge Frau im KZ Stutthof bei Danzig als Sekretärin gearbeitet hatte, wurde vom Landgericht Itzehoe wegen Beihilfe zum Mord in 10 505 Fällen schuldig gesprochen. Da sie zum Tatzeitpunkt jedoch erst 19 Jahre alt war, erhielt sie eine Jugendstrafe: zwei Jahre auf Bewährung. Anfang April dieses Jahres starb sie im Alter von 99 Jahren.

Der Fall Scheungraber – Strafe ohne Haft

Einer der letzten „großen Fische“ der Zentralen Stelle war Josef Scheungraber. Er wurde 2009 in München wegen eines Kriegsverbrechens verurteilt: In einem Akt brutaler Rache für den Tod zweier deutscher Soldaten befahl er 1944 als Kompanieführer des Gebirgs-Pionier-Bataillons 818 im italienischen Dorf Falzano di Cortona die Erschießung von mindestens zehn Zivilisten. Das Landgericht München I verurteilte ihn wegen zehnfachen Mordes zu lebenslänglich. Wegen Haftunfähigkeit musste er die Strafe jedoch nie antreten. Der einzige Überlebende des Wehrmachtmassakers, Gino Massetti, konnte dennoch mit der Angelegenheit abschließen: „Ich habe längst alles verziehen“, sagte er 2010. Scheungraber starb 2015 im Alter von 96 Jahren in Ottobrunn.

So neigt sich die Zeit der Nazi-Jäger einem natürlichen Ende entgegen. Aber was dann?

Damit die Verbrechen von NS-Tätern wie John Demjanjuk, Irmgard F. und Josef Scheungraber nicht in Vergessenheit geraten, gibt es Überlegungen, was mit der Zentralen Stelle passiert. Thomas Will hofft, dass alle Unterlagen aufbewahrt werden: „Diese Akten sind wichtige Zeitdokumente. Nicht nur, was die Taten betrifft, sondern auch im Hinblick auf den sich verändernden Umgang Deutschlands und seiner Justiz mit diesen Taten nach dem Krieg.“ Wahrscheinlich ist, dass die Zentrale Stelle ein Archiv wird.

Noch sei keine endgültige Entscheidung getroffen, sagt Thomas Will. Solange es lebende NS-Täter gebe, sei es das falsche Signal, die Strukturen für eine Nachfolgeeinrichtung zu schaffen. Wichtig sei, dass die Zentrale Stelle stets ein Ort „der Erinnerung, der Mahnung, der Forschung und Bildung“ bleibe.
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