Was da wohl drin ist? Ein Paar studiert in einem Supermarkt das Kleingedruckte auf Fertigprodukten. © imago
London – Tiefkühlpizza, Burger-Patties, Knuspermüsli – solche Lebensmittel sind lecker, praktisch und allgegenwärtig. Doch was auf den ersten Blick nach bequemer, schneller Mahlzeit aussieht, kann der Gesundheit langfristig schaden. Die zunehmend von hochverarbeiteten Lebensmitteln dominierte Ernährung trage zum weltweiten Anstieg von Fettleibigkeit, Diabetes und psychischen Erkrankungen bei, warnt Phillip Baker von der Universität Sydney (Australien). Nötig sei eine starke globale Reaktion ähnlich wie bei den Bemühungen gegen die Tabakindustrie.
Baker ist Mitautor einer aktuellen dreiteiligen Analyse im renommierten medizinischen Fachjournal „The Lancet“, in der 43 Expertinnen und Experten betrachten, wie die Industrie den Verkauf hochverarbeiteter Lebensmittel – auf englisch „ultra-processed food“, kurz UPF – ankurbelt und welche Auswirkungen solche Produkte auf unser Leben haben.
Hälfte der Produkte im Supermarkt ist hoch verarbeitet
Bei hochverarbeiteten Lebensmitteln handelt es sich laut der sogenannten Nova-Klassifizierung um industriell hergestellte Produkte aus billigen Zutaten wie gehärteten Ölen und Glukose-/Fruktose-Sirup sowie Zusatzstoffen wie Aromen und Farbstoffen, die meist zahlreiche Verarbeitungsschritte durchlaufen. Oft sind sie verzehrfertig oder nur noch aufzuwärmen, typisch sind zudem attraktive Verpackungen. Zucker, Fett oder Salz (oder Kombinationen davon) sind gängige UPF-Bestandteile, typischerweise in höheren Konzentrationen als in verarbeiteten Lebensmitteln, wie die Forschenden erläutern. Die Nova-Klassifizierung ordnet Lebensmittel nach dem Grad ihrer industriellen Verarbeitung in vier Gruppen ein: unverarbeitet, verarbeitete Zutaten, verarbeitete Lebensmittel – und hoch verarbeitete Lebensmittel.
Der zunehmende Anteil hoch verarbeiteter Lebensmittel an der Ernährung werde durch die wachsende wirtschaftliche und politische Macht der UPF-Industrie nahezu überall vorangetrieben, erklärte das Expertenteam. Mit einem jährlichen Umsatz von rund 1,9 Billionen US-Dollar im Jahr 2023 sei der Sektor bereits der profitabelste Teil der globalen Lebensmittelindustrie, Tendenz steigend.
Besonders in einkommensschwachen Ländern sei der Verkauf zuletzt stark gestiegen. In einkommensstarken Ländern liege der UPF-Anteil an der täglichen Ernährung bereits bei bis zu 50 Prozent, so die Experten. Frische und minimal verarbeitete Lebensmittel und Mahlzeiten würden verdrängt.
Eine Marktanalyse mit über 24 000 Lebensmitteln habe gezeigt, „dass etwa die Hälfte der in deutschen Supermärkten angebotenen Produkte hochverarbeitet ist“, erklärt der Ernährungswissenschaftler Mathias Fasshauer von der Justus-Liebig-Universität Gießen, der selbst nicht an der „Lancet“-Serie beteiligt war. Deutschland sei eines der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Absatz an hochverarbeiteten Lebensmitteln, sagt Gesundheitsökonom Peter von Philipsborn von der Universität Bayreuth. „Studien zeigen übereinstimmend, dass in Deutschland weniger frische, gering verarbeitete Lebensmittel verzehrt werden als empfohlen, während Produkte wie Softdrinks, Süßwaren, salzige Snacks und verarbeitetes Fleisch häufiger als empfohlen verzehrt werden.“
Die Veränderung der Ernährungsgewohnheiten werde von mächtigen globalen Konzernen vorangetrieben, die durch hochverarbeitete Produkte enorme Gewinne erzielten, so die Forscher. Durch umfangreiches Marketing und politische Lobbyarbeit verhinderten sie wirksame Maßnahmen zur Förderung einer gesunden Ernährung.
Für den Nutzer sind die Produkte bequem: Eine Tiefkühlpizza ist in wenigen Minuten fertig – für die selbst gemachte aus dem Ofen muss dagegen Teig angesetzt, Gemüse geschnippelt und Käse gerieben werden. Zudem sind Fertigprodukte wegen der billigen Zutaten und automatisierten Herstellungsprozesse oft sehr günstig. Viele Menschen könnten sich eine gesunde Ernährung gar nicht mehr leisten, warnen Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in einem Kommentar zu den „Lancet“-Beiträgen. Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte, würden immer teurer, hochverarbeitete Lebensmittel seien preiswert.
Dutzende Studien zeigen den „Lancet“-Autoren zufolge, dass eine Ernährung mit hohem UPF-Anteil mit übermäßigem Essen, zu viel Zucker, ungesunden Fetten, schädlichen Chemikalien und Zusatzstoffen einhergeht. Dadurch werde das Risiko für zahlreiche chronische Erkrankungen erhöht, darunter Fettleibigkeit, Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen.
Diese Folgen spielen auch in Deutschland eine große Rolle. Etwa ein Viertel aller Erwachsenen sei von Adipositas betroffen, sagt Gesundheitsökonom Peter von Philipsborn von der Universität Bayreuth. Und Übergewicht habe häufig Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Arthrose zur Folge. „Dies trägt zu den in Deutschland im internationalen Vergleich sehr hohen Gesundheitskosten und Krankenstand bei.“ Das Bundesgesundheitsministerium schätzte vergangenes Jahr die Behandlungskosten allein für Diabetes auf jährlich 35 Milliarden Euro.
Experten fordern Maßnahmen wie beim Kampf gegen Tabak
Das Kinderhilfswerk Unicef bezeichnet in einem Kommentar zur Lancet-Analyse hochverarbeitete Lebensmittel als eine der dringendsten Bedrohungen für die menschliche Gesundheit. Kinder seien besonders anfällig für UPF. Zugleich seien auch Kindertagesstätten, Schulen, Sport- und Freizeiteinrichtungen häufig mit UPF überschwemmt – auch durch Sponsoring-Vereinbarungen.
Die Lancet-Autoren fordern Maßnahmen vergleichbar dem Kampf gegen Tabakprodukte. Zum Beispiel die Besteuerung ungesunder Waren, Werbeverbote sowie Qualitätsstandards für Schul- und Krankenhausküchen. Über eine niedrigere Besteuerung könne der Zugang zu gesunden Lebensmitteln auch für Einkommensschwache verbessert werden.
Das größte Hindernis für die Umsetzung politischer Maßnahmen sieht das Expertenteam darin, dass die Industrie über ein globales Netzwerk von Tarnorganisationen, Multi-Stakeholder-Initiativen und Forschungspartnern dagegen ankämpfe und Regulierungen blockiere. Um direkte Lobbyarbeit gehe es dabei ebenso wie um die Infiltration von Regierungsbehörden und die Beeinflussung der öffentlichen Debatte etwa über gezieltes Schüren von Zweifeln an wissenschaftlichen Erkenntnissen. „Die Lebensmittelsysteme haben sich so entwickelt, dass Produktion, Vermarktung und Konsum ultraverarbeiteter Lebensmittel Priorität haben.“ Diesen Trend umzukehren, sei ein langfristiger Prozess. Ähnlich wie der anhaltende Kampf gegen das Rauchen.