Übersee/Bergen – Bürgerbegehren, Bürgerentscheid und Klage-Drohung – die Aufregung ist groß in Übersee rund um das Mega-PV-Projekt am westlichen Ortsrand. Die Kampfbereitschaft auch, auf beiden Seiten. „Natürlich muss zum Beispiel das Thema Artenschutz abgewogen werden bei diesem Projekt. Aber dafür gibt es ja den Bürgerentscheid, wo jeder seine Stimme abgeben kann“, sagt Übersees Bürgermeister Herbert Strauch der Chiemgau-Zeitung.
Die Bebauungsplanungen für die Zölf-Hektar-Anlage (120000 Quadratmeter) komplett zu beerdigen – wie von der Bürgerinitiative gefordert – kommt für den Ortschef aber auf keinen Fall in Frage: „Das hat schließlich der Gemeinderat mit seinen gewählten Vertretern entschieden. Und dann soll die Gemeinde zurückzucken? Nein, sonst bekommen wir ja in Zukunft überhaupt kein Projekt in der Gemeinde durch, wenn einer was dagegen hat.“
Genau das ist ein Problem in diesem PV-Streit, bei der es auch um die künftige Energieversorgung der gesamten Achental-Region geht. Das Ökomodell Achental, ein Zusammenschluss der neun Gemeinden Übersee, Bergen, Grabenstätt, Grassau, Staudach-Egerndach, Marquartstein, Unterwössen, Schleching und Reit im Winkl, hat bereits 2022 klare Ziele ausgegeben. Bis 2030 sollen 70 Prozent des benötigten Stroms und der Wärme im Achental aus erneuerbaren Energien stammen. Derzeit sind es nur etwa 40 Prozent, was deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 60 Prozent liegt.
„Es ist deshalb klar, dass etwas passieren muss. Windkraft fällt aus, weil wir im Achental nicht genügend Wind haben. Das Thema Wasserkraft an der Tiroler Ache haben wir abgewogen und aus Naturschutz-Gründen ausgeschlossen. Bleibt nur Photovoltaik“, sagt Bergens Bürgermeister Stefan Schneider der Chiemgau-Zeitung. Er ist Vorstandsvorsitzender des Ökomodells Achental, in dem die Ortschefs der neun beteiligten Gemeinden vertreten sind. Alle sind sich einig, dass das Thema Energiewende nur mit Sonnenstrom zu bewältigen ist: „In den nächsten Jahren muss es einen großen PV-Ausbau in der Region geben.“
Die Kritiker der Bürgerinitiative in Übersee bemängeln freilich die ausschließliche Konzentration auf ihren „Blumenort“. Neben der Zwölf-Hektar-Anlage plant der Landkreis Traunstein auf der anderen Seite der Bahnstrecke München-Salzburg noch einen weiteren Fünf-Hektar-Solarpark (50000 Quadratmeter). „Warum 17 Hektar in Übersee und in den anderen Achental-Gemeinden gar nichts?“, fragt sich Wolfgang Wimmer, Chef der Bürgerinitiative in Übersee.
Ganz stimmt dieser Vorwurf für die Ökomodell-Gemeinden freilich nicht mehr. In Reit im Winkl wurde kürzlich der Weg für eine Freiflächen-PV-Anlage geebnet, die von der gleichen Firma gebaut werden soll, die für die Nahwärmeversorgung der Gemeinde per Biomasse-Kraftwerk zuständig ist. Auch in Grabenstätt und Bergen, den anderen beiden Orten, die in der Nähe von Autobahn A8 und Bahnlinie liegen, gibt es zumindest Pläne. Hier ist der Bau von Solar-Anlagen durch die gesetzliche Privilegierung im 200-Meter-Radius um große Verkehrswege am einfachsten.
„Grabenstätt ist sehr aktiv und plant Anlagen im Bereich der Kiesgruben“, sagt Ökomodell-Chef Schneider und verrät auch die Solar-Planungen seiner Gemeinde Bergen: „Wir sind mit einem Grundeigentümer in Verhandlungen über eine Fläche. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass alle Gemeinden des Ökomodells etwas in Sachen PV tun müssen.“
Die noch stärkere Nutzung von Dachflächen in den Orten sei wegen Problemen in Sachen Statik, Schneelast oder Windlast schwierig. In Übersee sind freilich per Ortssatzung auch Balkonkraftwerke verboten, um das Ortsbild nicht zu verschandeln. Die gigantische Zwölf-Hektar-PV-Anlage stellt dagegen für die Gemeinderäte des Luftkurorts kein Problem dar, was nicht nur für Kritiker schwer verständlich ist.
Ganz wichtig ist dem Ökomodell laut Schneider, dass die Kontrolle der PV-Projekte in den Händen der Gemeinden liegt und die Wertschöpfung an die Bürger geht. Deshalb wurde extra die Bürgerenergiegenossenschaft Neue Energie Achental (NEA) gegründet, die um die 150 finanziell beteiligte Mitglieder hat.
Dass ausgerechnet Übersees Bürgermeister Strauch dort im Aufsichtsrat sitzt, sieht Stefan Schneider im Gegensatz zu den Gegnern der PV-Pläne nicht als Interessenkonflikt: „Wir Bürgermeister vom Ökomodell haben Herbert Strauch als Ressort-Verantwortlichen Energie dorthin entsandt.“
Der Ökomodell-Boss räumt allerdings nicht nur in diesem Fall ein, dass „unsere Kommunikation besser werden muss.“ Damit die Aufregung in Übersee und dem Achental nicht noch größer wird.Lars Becker