Unklarheit ist eigentlich das, was Börsianer und Anleger überhaupt nicht mögen. Bei der US-Präsidentschaftswahl war am Freitag bis Börsenschluss noch sehr vieles unklar. Und doch hat der Deutsche Aktienindex Dax zugelegt wie lange nicht mehr. Bei mehr als acht Prozent liegt das Plus im Wochenverlauf.
Nicht nur für Oliver Roth, erfahrener Börsenchef des Bankhauses Oddo Seydler, ist das aber dann doch keine Überraschung. Zwar werde Joe Biden wohl neuer US-Präsident, aber im Senat erreichen die Demokraten wahrscheinlich nicht die erhoffte Mehrheit. „Biden kann deshalb nicht durchregieren und nicht umkehren, was Trump für die Wirtschaft getan hat“. Roth denkt unter anderem an die Steuerreform. Andererseits stellt er mit Nachdruck klar, dass er die Wahl von Biden begrüßt, so der Demokrat denn tatsächlich gewinnt. Roth ist nicht der einzige an der Börse, der das so sieht. Auch hier wünscht man sich schon lange einen Präsidenten, der berechenbar ist und auch wieder das Gespräch mit den Europäern sucht. „Die Aktienmärkte setzen auf eine wieder verlässlichere Politik der USA“, sagt Andreas Hürkamp von der Commerzbank.
Auch Markus Reinwand von der Landesbank Hessen-Thüringen sieht Vorteile für die Finanzmärkte durch das wahrscheinliche Wahlergebnis. Die Hoffnung bei einer Wahl Bidens sei, dass die Staatsausgaben erhöht würden, aber der vermutlich von den Republikanern dominierte Senat etwa die Steuer-(erhöhungs-)pläne Bidens blockiere.
An der Börse setzt man auch darauf, dass sich die Gefahr eines globalen Handelskrieges durch den Einzug des Demokraten ins Weiße Haus deutlich vermindert. Zur überraschend positiven Entwicklung der Kurse dürfte auch die gelassene Reaktion der US-Notenbank Fed am Donnerstag beigetragen haben. Sie dreht erst einmal nicht weiter an der Zinsschraube. Fed-Chef Jerome Powell ist aber bereit, die Wirtschaft mit neuerlichen Geldspritzen zu stützen.
Auch an der Börse hat man vor lauter US-Wahlchaos das Pandemie-Geschehen und die rasant steigenden Corona-Infektionszahlen in Deutschland, in Europa und weltweit nicht aus den Augen verloren. Trotz weiterer Konjunkturhilfen bleiben viele skeptisch. Anleger und Investoren setzen zugleich auf weitere Geldspritzen durch die Europäische Zentralbank (EZB) Anfang Dezember. Präsidentin Christine Lagarde lässt wenig Zweifel, dass sie kommen.
Ermutigt werden die Akteure auf dem Parkett und an den Computern auch dadurch, dass 70 Prozent der Unternehmen bislang die Gewinnschätzungen für das dritte Quartal übertroffen haben. Am Freitag meldete auch die Allianz einen höheren Nettogewinn. „Damit fällt die Berichtssaison besser als ursprünglich erwartet aus“, stellt Björn Hallex von der Weberbank fest.
Unabhängig vom Ausgang der US-Wahlen und der Entwicklung der Pandemie bleiben Alternativen zu Aktien weiter rar gesät. Bei den Zinsen wird sich vermutlich auf Jahre hin nichts bewegen. Sie stecken im Keller fest. Sparanlagen und Bundesanleihen bringen kaum Rendite, wenn man die Inflationsrate berücksichtigt.
ROLF OBERTREIS