Der kommende Salzburg-Mann

von Redaktion

Raphaël Pichon rettet im Kirchenkonzert die Mozart-Ehre der Festspiele

Vergleichbar ist das nur mit dem „Parsifal“ in Bayreuth oder dem „Tristan“ in München: Orte, durch die noch jetzt der Weihedunst der Uraufführung weht. Seit 1927 führen die Salzburger Festspiele Mozarts c-Moll-Messe an ihrem Geburtsort auf, in der Stiftskirche St. Peter. Und fast ebenso lang währen die Anstrengungen, den gewaltigen Torso als Werk an sich zu akzeptieren, ihm ein anderes vorzuschalten oder, am hilflosesten, mit anderen Messeteilen Mozarts zu komplettieren.

Raphaël Pichon wählt eine weitere Lösung, und die ist genial. Vor und in die c-Moll-Messe platziert er Kirchenwerke von Schubert und Bruckner. Das ist aufregend, weil der Franzose den Mozart-Duktus aufnimmt oder – im Falle von Schuberts schlicht-innigem „Heilig, heilig“ aus der Deutschen Messe vor Mozarts gemeißeltem Sanctus – zwei Formen der Gottesanrufung und damit Gottesbilder vorführt. Erstaunlich ist diese „Anreicherung“ der Messe aber auch, weil man in nur 100 Minuten den Kosmos der Kirchenmusik zwischen Salzburg und Wien erlebt, seine Weiterentwicklung, besonders seine Kontinuitäten.

Der 35-Jährige sowie sein Vokal- und Instrumental-Ensemble Pythagoras wandeln auf den Spuren John Eliot Gardiners. Der Klang ist also nicht poliert oder extrem homogen, vielmehr breit, charaktervoll, offensiv in seinen theatralen Wirkungen und doch auf Durchhörbarkeit und Profilierung der Schichtungen bedacht. Das Kyrie der Messe öffnet sich wie ein mächtiges Portal. Bruckners „Christus factus est“ (eingeschoben vor dem Gloria) entfaltet auch im Leisen eine bestürzende Dichte und Intensität, ebenso wie die schmerzlich ausgekosteten Harmonie-Reibungen. Zuvor hatten ein Lacrimosa Schuberts und dessen „Hymnus an den Heiligen Geist“ (zum Teil solistisch und von der Empore gesungen) einen Bedeutungsraum für die Messe geöffnet.

Mozart aus dem Geiste der Dramatik empfunden und nicht aus falsch verstandener Theatralität oder Effekthascherei: Pichon wird damit, wenige Tage nach der Premiere von „Don Giovanni“, zum großen, viel glaubhafteren Antipoden von Teodor Currentzis. Auch Pichon arbeitet mit Extremen, gibt aber nicht den Extremisten. Ernsthaftigkeit hört man heraus und Eleganz. Alles ist in seiner Tempo- und Affekt-Architektur klug hinterfragt und realisiert, entspringt einem religiösen und tiefen klangdramatischen Bewusstsein.

Gegen die Akustik kommt allerdings auch diese Interpretation nicht an. Mag manches in seiner Expansion verblüffen: Der Klang droht sich gelegentlich zu überschlagen, gerät fast ins Dröhnen. Pichon gibt hier genauso wenig nach wie in den schnellen Fugen, die nurmehr als Rausch erlebbar sind – aber das war schon zu Mozarts Zeiten so.

Sabine Devieilhe (Sopran) singt an diesem Abend auf einem eigenen Planeten, so natürlich, scheinbar entspannt und beseelt sind die Soli der c-Moll-Messe fast nie zu hören. Mezzo Angela Brower kontrastiert dazu apart im Timbre, muss sich aber mehr mühen. Robin Tritschler (Tenor) und Christian Immler (Bass) sind, so will es die Partitur, nur Stichwortgeber. Ein bestechendes Konzert, das Auftakt ist zu weiteren Salzburger Mozart-Großtaten Pichons: 2023, so ist zu hören, soll er einen neuen „Figaro“ dirigieren.

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