Was genau ist Migräne?
Migräne ist eine Erkrankung, bei der es immer wieder zu anfallsartigen Kopfschmerzen kommt. „Diese können halb- oder beidseitig auftreten“, erklärt unser Experte Prof. Andreas Straube, Leiter der Kopfschmerzambulanz an der Neurologischen Klinik des Klinikums der Universität München. „Patienten beschreiben den Schmerz häufig als pulsierend.“ Viele seien während eines Anfalls licht-, lärm- und teils auch geruchsempfindlich. „Viele berichten auch, dass der Kopfschmerz intensiver wird, wenn sie sich leicht körperlich belasten, also zum Beispiel Treppen steigen“, sagt Straube. Zu den Schmerzen kommen oft Appetitlosigkeit und Übelkeit, die „bis hin zum Erbrechen“ reichen könne.
Sind Frauen wirklich viel häufiger betroffen?
Das stimmt tatsächlich – vor allem in ihren fruchtbaren Jahren. „Bis zur Pubertät sind Jungen und Mädchen etwa gleich häufig betroffen“, sagt Straube. Denn was viele gar nicht wissen: Bereits Kinder können erkranken. „Mit der Pubertät geht die Häufigkeit deutlich auseinander“, sagt der Experte. Bei den 14-Jährigen seien etwa vier Prozent der Jungen und sechs Prozent der Mädchen betroffen. „Um das 40. Lebensjahr haben etwa 24 Prozent der Frauen und sieben Prozent der Männer eine aktive Migräne.“ Nach der letzten Regelblutung lassen die Beschwerden bei Frauen deutlich nach. Ab dem 60. Lebensjahr leiden noch etwa 5 bis 6 Prozent von ihnen unter Migräneattacken, bei den Männern sind es nur noch ein bis zwei Prozent. Insgesamt sind etwa elf Prozent der Menschen in Europa an Migräne erkrankt.
Wie häufig kommt es zu solchen Migräneanfällen?
Das ist sehr verschieden. „Bei 95 Prozent aller Betroffenen sind es weniger als sechs Kopfschmerztage pro Monat“, sagt Straube. Darunter seien sogar viele, die „nur“ an ein bis zwei Tagen pro Monat Beschwerden haben. Sie können sich meist gut selbst helfen. „Nicht jeder, der hin und wieder Kopfschmerzen hat, muss zum Arzt“, sagt der Experte. Wer aber deutlich öfter Attacken hat, sollte zum Hausarzt gehen. Das gelte auch, wenn die Anfälle plötzlich viel häufiger auftreten als gewohnt oder wenn sich der Schmerz verändere. So lässt sich verhindern, dass eine chronische Migräne entsteht. Betroffene haben dann an mindestens 15 Tagen pro Monat Kopfschmerzen.
Kündigt sich eine Attacke manchmal vorher an?
Etwa 70 Prozent der Patienten bemerken bereits bis zu 24 Stunden vorher, dass ein Anfall kommt. Die Anzeichen sind sehr individuell. So berichten manche Patienten, sie seien dann leicht reizbar, andere fühlen sich müde, haben Heißhunger oder auch Harndrang. Einige Betroffene erleben zudem eine „Aura“: Das ist eine Phase von 15 Minuten bis zu einer Stunde vor einer Attacke, die mit neurologischen Störungen wie Flimmer- oder Flackersehen einhergeht, manchmal auch mit Gefühlsstörungen.
Ist Migräne heilbar?
Nein, heilen lässt sich Migräne leider nicht. Betroffene neigen generell eher zu Kopfschmerzanfällen, was sehr wahrscheinlich auch genetische Ursachen hat – aber eben nicht nur. Patienten können und sollten daher auch selbst etwas tun, damit die Attacken seltener kommen. So können sie verhindern, dass sich eine chronische Migräne entwickelt. Dazu gehört es, häufige Auslöser zu meiden oder anders damit umzugehen.
Was sind denn solche häufigen Auslöser?
Dazu gehören Änderungen im Tag-und-Nacht-Rhythmus, wie Straube erklärt. Zum Beispiel Schichtarbeit oder ein Transatlantikflug. Aber auch: eine Mahlzeit ausfallen zu lassen oder das Trinken zu vergessen. Generell können alle Änderungen im Lebensrhythmus Migräneanfälle auslösen. Hinzu kommt: „In Lebensabschnitten, in denen Patienten unter vermehrter Stressbelastung stehen, häufen sich bei vielen Migräneattacken“, sagt Straube.
Setzt man beim Stress auch in der Prävention an?
„Das ist ein ganz wesentlicher Punkt“, sagt unser Experte. Das Ziel ist aber weniger, Stress zu vermeiden, sondern vielmehr, zu einem besseren Umgang damit zu finden. .„Das fängt damit an, dass man versucht, einen regelmäßigen Lebensrhythmus einzuhalten und regelmäßige Ruhepausen einzubauen“, sagt Straube. Er rät außerdem dazu, sich ganz bewusst Freiräume zu schaffen – also Zeit, die man nur für sich selbst nutzt. Eine solche „Freizone im doppelten Sinne“ könne Sport sein: Denn dabei grenze man sich nicht nur ab und mache etwas für sich selbst. Sport wirke zudem hemmend auf den „Sympathikus“ – also den Teil des Nervensystems, der für Stressreaktionen zuständig ist. Straubes Rat daher: drei Mal pro Woche 30 bis 45 Minuten Ausdauersport.
Sind auch Entspannungstechniken sinnvoll?
„Absolut“, sagt unser Experte. Besonders bewährt hätten sich Verfahren wie die „progressive Muskelrelaxation nach Jacobson“, Tai Chi, Qi Gong oder Yoga. Das Problem: Viele versuchen sich, diese Techniken mit CDs oder Büchern selbst anzueignen. Doch ohne Anleitung klappt das oft nicht richtig, erlebt Straube bei seinen Patienten. Er rät daher, lieber einen Kurs zu besuchen. Angebote gibt es zum Beispiel bei Volkshochschulen und Gesundheitszentren. Auch Krankenkassen bieten oft günstige oder sogar kostenfreie Kurse für Mitglieder.
Was bringt Akupunktur?
Auch Akupunktur kann helfen, ein Verfahren aus der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Dabei sticht der Therapeut Nadeln an bestimmten Punkten in die Haut. Manchen helfe das Studien zufolge tatsächlich, ihre Migräneanfälle zu reduzieren, sagt Straube – sofern sie der Methode aufgeschlossen gegenüberstehen. Akupunktur helfe also nicht jedem. Wer das Verfahren ausprobieren wolle, sollte nach etwa zwölf Sitzungen Bilanz ziehen, rät Straube: Gebe es bis dahin keine Besserung, dann beenden.
Wie funktioniert Biofeedback?
Viele Patienten erleben eine Migräne auch als Kontrollverlust: „Sie fühlen sich dem Schmerz hilflos ausgeliefert“, sagt Straube. Hier kann eine psychologische Begleitung helfen – aber auch: Biofeedback. Bei diesem Verfahren misst man Körperreaktionen wie Schweißproduktion, Atemfrequenz oder Blutdruck. Patienten bekommen das Ergebnis als Signal auf einem Bildschirm angezeigt. Ihre Aufgabe: dieses Signal reduzieren. „Die meisten versuchen das, indem sie über angenehme Situationen nachdenken“, erklärt Straube. Dabei erleben sie, dass sie diese vermeintlich unkontrollierbaren Parameter eben doch kontrollieren können. Eine wirksame, aber sehr aufwendige Methode. Sie ist daher meist Patienten mit häufigen Attacken vorbehalten.
Was hilft Patienten mit schwerem Verlauf noch?
Leiden Patienten an mehr als vier bis fünf Tagen pro Monat an Kopfschmerzen, kommt eine medikamentöse Prophylaxe infrage. Das heißt: Sie nehmen Medikamente – aber keine Schmerzmittel! –, um Attacken vorzubeugen. Infrage kommen dafür verschiedene Antidepressiva und Mittel gegen Bluthochdruck und Krampfanfälle. „Für schwere Fälle gibt es noch Botulinumtoxin“, sagt Straube. Also: „Botox“, vielen besser als Mittel gegen Falten bekannt. Zur Migränetherapie wird es Patienten an vielen Stellen unter die Kopfhaut gespritzt. Eine Methode, die bei Patienten mit 15 Anfällen oder mehr pro Monat infrage kommt.
Gibt es neue Arzneien?
Im November soll eine neue Gruppe von Migräne-Medikamenten auf den Markt kommen, die bereis in den USA und in der Schweiz erhältlich sind: Es handelt sich um Antikörper, die die Wirkung des Mini-Eiweißes „CGRP“ („Calcitonin Gene Related Peptide“) aufheben sollen. Das wird bei einem Migräneanfall in großer Menge im Gehirn freigesetzt: Hier setzen die neuen, prophylaktischen Medikamente an. Sie hätten in Studien „eine gute Wirksamkeit“ bei geringen Nebenwirkungen gezeigt, sagt Straube.
Zusammengefasst: Andrea Eppner