Die Tafel deckt zum Fest unseren Tisch

von Redaktion

VON STEPHANIE EBNER

In einem Alter, in dem sich die Menschen normalerweise zur Ruhe setzen, in Rente gehen und das Leben zu genießen beginnen, hat Yuri Ginzunterman seine Habseligkeiten zusammengepackt und ist mit der Familie nach Deutschland gekommen. „Ich sah keinen anderen Ausweg für mich und meine Familie.“ Sie kamen mit fast leeren Händen in Deutschland an. „Wir durften nur wenig mitnehmen.“ Nur was sie tragen konnten. Wichtige Dokumente musste der Ukrainer zurücklassen – „sie wären uns an der Grenze abgenommen worden“.

Über 20 Jahre ist die Ausreise jetzt her. „Ich habe sie keinen Tag bereut.“ Yuri sitzt mit seiner Frau Maya auf dem Sofa. „Wir hatten keine Alternative“, sagt er. Die Töchter, beide Buchhalterinnen, wurden damals genötigt, Bilanzen zu fälschen. „Da haben wir beschlossen, dass wir in der Ukraine keine Zukunft haben.“ Der Anfang in München sei schwer gewesen. „Wir reisten nach Deutschland, weil meine Urgroßmutter ursprünglich von hier stammt.“

Sein erster Weg führte Yuri, einst ein leitender Ingenieur, zum Arbeitsamt in München . Doch dort bekam er den Rat: „Lassen sie die Jungen arbeiten. Sie sind zu alt.“ Damit musste sich der Techniker, der ein Leben lang für sich und seine Familie gesorgt hat, abfinden. Zumindest die Sprache lernte er aber. Denn „nur wer die Sprache kann, gehört dazu“.

Ohne Hilfe hätte es das Ehepaar nicht geschafft, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. „Es war ein Segen, dass wir zur Münchner Tafel durften.“ Immer wieder betont der 87-Jährige: „Ich bin so dankbar, dort Gast sein zu dürfen.“ Dass ihm gerade die Worte fehlen, liegt nicht an seinen fehlenden Sprachkenntnissen. Er und seine Frau sind gerührt von all der Hilfe, die sie bekommen. „Ich weiß nicht, was wir ohne die Münchner Tafel machen würden.“ Denn Rente aus der Ukraine bekommen sie nicht – trotz der über 40 Jahre, die der Ingenieur und die Bibliothekarin gearbeitet haben.

Einmal in der Woche ist Yuri berechtigt, bei der Tafel Lebensmittel zu holen. „Jedes Jahr werden wir mehr Menschen, die darauf angewiesen sind.“ Auch eine andere Tatsache hat der 87-Jährige beobachtet: „Früher kamen die meisten Hilfsbedürftigen aus fremden Ländern, jetzt sind es immer mehr Deutsche, die zur Tafel kommen..“

Die Mittel der Tafel sind begrenzt. Das bekommt auch das Ehepaar zu spüren: „Ich kann nicht sagen, dass wir Hunger leiden, doch früher waren die Zuteilungen größer.“ Es wird von Jahr zu Jahr weniger. Geld, um essen zu kaufen, haben die beiden Rentner kaum. Die meiste finanzielle Zuwendung gehe für die Medizin drauf, sagt der 87-Jährige.

Dem gebürtigen Ukrainer war es immer wichtig, dass er sich nicht nur von der Tafel versorgen lässt, sondern auch selbst aktiv mit anpackt: 20 Jahre half er da, wo es nötig war. Er war Dolmetscher und Aufsicht. Seinen Einsatz hat er erst mit Ausbruch der Pandemie beendet.

Gastfreundschaft heißt für den Wahl-Münchner auch, Besuchern etwas mit auf den Weg zu geben. So auch diesmal in Form eines Glases aus eingemachtem Gemüse. Es wäre unhöflich, dies abzulehnen, das macht Yuri zum Abschied unmissverständlich klar: „Wir haben so viel bekommen, wir wollen auch etwas zurückgeben.“

Dann sagt er noch einmal Danke. Danke, dass er hier mit seiner Familie ein neues Leben beginnen durfte.

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