MÜNCHNER FREIHEIT

Es ist ein Kreuz!

von Redaktion

Das Leben als Gipfelkreuz stellt man sich als Laie sehr idyllisch vor: Man verbringt sein Leben dort, wo andere immer sein wollen, hoch auf dem Berg, man ist an der frischen Luft, man wird sehnsüchtig erwartet und dutzendfach am Tag mit „endlich“ begrüßt. Gipfelkreuz ist ein ähnlich schöner Beruf wie Strandliegeeigentlich sogar noch schöner, weil die Menschen am Kreuz zwar auch schwitzen, aber immerhin Kleidung anhaben.

Seit Kurzem wissen wir, auch dank dieser Zeitung, dass das Leben als Gipfelkreuz doch nicht so schön ist: Jenes berühmte auf der Zugspitze ist völlig überlaufen und kopfschüttelnd muss das Gipfelkreuz Tag für Tag dabei zuschauen, wie leichtsinnige Wanderer mit Turnschuhen den kleinen Klettersteig bis zum höchsten Punkt hochkraxeln. Ganz zu schweigen vom Alltag eines Gipfelkreuzes: Saukalt ist es häufig, dann wieder sauheiß und ständig wird man fotografiert von den Flachlandtirolern, die eben erst mit der Gondel raufgekommen sind. Die Lösung ist jetzt gefunden: Ein weiteres Gipfelkreuz auf der Zugspitze, ausreichend für das Angeber-Selfie und weit entfernt von den Abgründen rings um das Original.

Vor 50 Jahren hätte man das für einen Aprilscherz im Juni gehalten: ein weiteres Gipfelkreuz, das nicht am Gipfel steht? Kann doch nur ein Witz sein. Dann könnte man ja auch am Grund des Olympiabades ein Schild „Marianengraben“ aufstellen, weil das Springerbecken ja wirklich sautief ist und es sich für Laien fast so anfühlt, als wäre man noch viel tiefer. Oder was würde der Olympiasieger über die 100 Meter sagen, wenn der Zweitplatzierte bei der Siegerehrung mit auf die höchste Stufe steigt? „Runter da?“ Oder fände der Gewinner es vielleicht auch super? „Ja, gute Idee, ich kann Dich gut gebrauchen, dann kannst Du als Fast-Erster die nervigen Interviews für mich machen!“ Man merkt schon, dass man mitten in einer Zeit von „Übertourismus“ und „Fotowahn“ lebt, wenn ein zweites Gipfelkreuz plötzlich eine geniale Lösung ist.

Als Mensch kann man nur neidisch werden, wie dem Gipfelkreuz auf der Zugspitze jetzt die Arbeit erleichtert wird. Hat man nicht selbst auch genug zu tun? Wo ist mein zweites Gipfelkreuz, das mir irgendjemand aufstellt und sagt: „Du warst so viele Jahre so fleißig, jetzt kriegst Du jemanden an die Seite, der Dir das Leben erleichtert?“ Oder anders: Wer sagt mir, der eierlegenden Wollmilchsau zwischen Familie und Beruf: „Lass mich mal Eier legen. Du hast schon genug zu tun mit der Wolle!“

Und? Sehe ich eine Hand? Sie vielleicht? Natürlich nicht, Hilfeleistung Fehlanzeige. Das ist der Gipfel. Und es ist ein Kreuz mit Ihnen. Ganz klar: ein Gipfelkreuz.

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