„Jacinderella“ regiert das Land der Kiwis

von Redaktion

37-jährige Labour-Chefin Jacinda Ardern legte Amtseid als Ministerpräsidentin ab – Moralische Integrität ist ihr Markenzeichen

Wellington – Sie dreht als Amateur-Diskjockey am Plattenteller und wirft weltvergessen die Arme in die Höhe, sammelt historische Nachttöpfe und trinkt Whisky. So ziemlich jeder, der sie seit ihrer Kindheit und Jugendzeit kennt, wusste schon immer, dass Jacinda Ardern eines Tages Neuseeland regieren würde. Die Eltern sowieso, und ihre Mitschüler am Morrinsville College bescheinigten ihr 1998 in einer Abstimmung, als sie achtzehn war, dass sie das Zeug zur Premierministerin hatte.

Jetzt ist „Jacinderella“ – abgeleitet von dem zur Prinzessin aufgestiegenen Aschenputtel (Cinderella) – siebenunddreißig und das Märchen wurde wahr. Gestern legte sie ihren Amtseid ab, als dritte Frau nach Jenny Shipley (1997 bis 1999) und Helen Clark (1999 bis 2008) und als zweitjüngste Person aller Zeiten in dieser Position. Edward Stafford war bei seinem Amtsantritt 1856 zweiundfünfzig Tage jünger als Ardern, die erst am 1. August, sieben Wochen vor den Parlamentswahlen, den Vorsitz in der Labour-Partei übernommen hatte. Da waren die Umfragewerte unter ihrem Vorgänger Andrew Little („Angry Andy“) auf 24 Prozent abgestürzt und alle Hoffnungen auf einen Regierungswechsel zerstoben.

Unter der Kommunikationswissenschaftlerin, die nach Abschluss ihres Studiums für ihre spätere Mentorin Helen Clark arbeitete, 2008 zur Präsidentin der internationalen Dachorganisation der Jungsozialisten gewählt wurde und im selben Jahr über einen Listenplatz ins neuseeländische Parlament einzog, erlebte die Partei eine Wiederauferstehung (36,9 Prozent der Stimmen). Nun stellt sie in einer Koalition mit der national-populistischen Partei NZ First (7,2) und mit Unterstützung der Grünen (6,3) außerhalb des Kabinetts die Regierung für die nächsten drei Jahre. Die bisher regierende Nationalpartei unter dem Premier Bill English muss trotz 44,4 Prozent Zuspruchs in die Opposition.

Der Pferdewechsel kurz vor Toreschluss sorgte im Land der Kiwis für einen wetterumsturzgleichen Stimmungswandel, der mit Jacinda-Mania und Jacinda-Effekt beschrieben wurde. Der jungen Politikerin flogen die Herzen jener zu, die in diesem Geschäft Aufrichtigkeit, Mitgefühl, Herzlichkeit und einwandfreie Moral vermissen. Denn genau das strahlt sie aus. Ihr attraktives Äußeres – tolle Figur, lange kastanienbraune Haare, strahlender Teint, knallrot geschminkte Lippen – war im Wahlkampf Segen und Fluch zugleich: Gegner und Kritiker sprachen ihr deshalb automatisch die Eignung für das Amt und Führungsqualitäten ab.

Der Multimillionär Gareth Morgan, Vorsitzender der neuen und unbedeutenden Opportunity Party, giftete sogar in Richtung Ardern, sie müsse beweisen, dass sie mehr als „Lippenstift auf einem Schwein“ sei. „Es ist frustrierend“, sagte sie zum Beweiszwang, dass gut aussehende Frauen nicht dumm sein müssen.

Mit manuskriptfreien Reden und beeindruckendem Detailwissen hat die 40. Premierministerin Neuseelands bewiesen, dass sie kein politisches Leichtgewicht ist. Ein Dilemma bleibt jedoch: Irgendwann möchte Jacinda Ardern, die mit dem Radio- und Fernsehmoderator Clarke Gayford zusammenlebt, Kinder haben, kann sich aber nicht wirklich vorstellen, diesen Wunsch mit dem höchsten Regierungsamt zu vereinbaren. „Der ideale Job wäre Ministerin für Kinder“, sagte sie – bevor ihre gewinnende Persönlichkeit sie an die Spitze der Nation spülte. Sissi Stein-Abel

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