Amerikas vergessener Friedhof

von Redaktion

Die Mordrate in Chicago stellt die Opferzahlen von Amokläufen deutlich in den Schatten. In den Medien spielen die traurigen Zahlen kaum eine Rolle.

VON FRIEDEMANN DIEDERICHS

Washington/Chicago – Der 33-jährige Demetrius Flowers aus Chicago wollte in wenigen Tagen heiraten. Ein Freund lud den Afro-Amerikaner am Samstag zu einer Freiluft-Party auf der Westseite der Stadt ein. Wenig später lag Flowers zusammen mit sieben anderen Menschen in seinem Blut. Unbekannte hatten das Feuer auf die feiernde Gruppe eröffnet.

Als am Montagmorgen die Polizei der drittgrößten Metropole der USA Bilanz zog, waren es erschütternde Zahlen. Seit Freitagabend waren 55 Menschen durch Schusswaffen getroffen worden, sieben von ihnen tödlich. Am Sonntag mussten einige der großen Hospitäler sogar einen Aufnahmestopp verhängen. Die Opfer waren fünf bis 56 Jahre alt. Seit Jahresbeginn wurden in Chicago rund 1600 Menschen von Kugeln getroffen, mehr als 300 starben.

Während US-Präsident Donald Trump gestern seine umstrittenen Besuche in Ohio und Texas absolvierte, war ein Abstecher nach Chicago nicht vorgesehen. Auch Volksvertreter der Demokraten, die Trump eine Mitschuld an den jüngsten Massakern geben, haben sich bisher nicht in Chicago eingefunden. Die Stadt ist längst zu Amerikas vergessenem Friedhof geworden, doch gelten die Toten der „Windy City“ als Phänomen, das in Washington mit Achselzucken hingenommen wird. Denn hier feuern nicht wie in El Paso weiße Nationalisten oder wie in Dayton frustrierte weiße Jugendliche mit linksextremen Tendenzen auf unschuldige Opfer. In den „Projects“ der Süd- und Westseite schießen und sterben vor allem Schwarze, oft als Folge von Bandenkriegen oder Aufnahmeritualen. Die Statistiken stellen die Zahl der Opfer von Amokläufen in den Schatten.

Über Chicago, Heimatstadt von Barack Obama, redet die Opposition in den USA auch deshalb so ungern, weil die Stadt nicht in die politische Agenda passt. Sie hat mit die schärfsten Waffengesetze im Land – doch diese zeigen so gut wie keine Wirkung. Die meisten Pistolen, Revolver und Gewehre in der seit Jahrzehnten demokratisch regierten Metropole werden auf den Straßen gehandelt. Wer beim Besitz ertappt wird, muss von der liberalen Justiz der Stadt kaum etwas befürchten. Chicagos schwarzer Polizeichef Eddie Johnson beklagte jetzt, dass die meisten Kriminellen nach 24 Stunden wieder auf freiem Fuß seien.

Richter und Staatsanwälte stehen seit Langem unter Druck von Menschenrechts-Organisationen, gegenüber Minderheiten – in diesem Fall fast immer Schwarzen – nachsichtig zu sein, da diese stark überproportional unter den Inhaftierten seien. Und das wird gerne einem rassistischen Polizei- und Justizapparat angelastet.

Diese aus politischer Korrektheit praktizierte Milde hat drastische Folgen – fast immer an den Wochenenden. Manche Bezirke im Süden der Stadt gelten längst als inoffizielle „No-go“-Zonen, wo die Polizei resigniert hat und den Ambulanzfahrern das Auflesen der Verwundeten und Toten überlässt.

Zu denen, die die Gewaltorgien mit dem Leben bezahlten, zählen die 26-jährige Chantell Grant und ihre Freundin Andrea Stoudemire (35). Beide Afro-Amerikanerinnen gehörten zur Gruppe „Mothers against Senseless Killings“ („Mütter gegen sinnlose Morde“). Am Freitag verteilte das Duo Essen an Jugendliche und Mütter, als plötzlich Schüsse fielen. Beide Frauen starben – an der Straßenecke, an der einst jene Morde geschahen, die die Aktivistinnen animierten, ihre Arbeit aufzunehmen.

Auch hier haben wie bei den meisten Bluttaten die Cops bisher keine Hinweise auf die Täter. In den Ghettos gilt eine eiserne Regel. Wer mit der Polizei kooperiert, ist ein „snitch“ – also ein Informant. Und muss sterben.

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