Washington – Es war eine surreal anmutende Szene, die das Land noch nicht gesehen hatte und die in die Geschichte eingehen wird. Präsident Donald Trump, dessen Amtsenthebungsverfahren gestern Abend mit einem Freispruch enden sollte, spricht bei seiner traditionellen Rede zur Lage der Nation („State of the Union“) im Kongress. Auf dem Podium hinter ihm sitzt neben Vizepräsident Mike Pence ausgerechnet die Demokratin und Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die sein „Impeachment“ angestrebt hat. Doch der Präsident zeigte sich unbeeindruckt und wie immer selbstbewusst in einer der besten Wochen seiner Amtszeit.
Eine Gallup-Umfrage bescheinigt ihm die höchste Zustimmungsquote seit Amtsantritt. Die Partei steht fest hinter ihm beim Amtsenthebungs-Verfahren. Und die Blamage der Demokraten beim chaotischen Vorwahl-Auftakt in Iowa liefert ihm das Argument, dass die Opposition für ein Regieren völlig ungeeignet sei.
Wie tief ihn das „Impeachment“ allerdings schmerzt, sieht man daran, dass er zum Auftakt seiner 78-minütigen Rede Pelosi den traditionellen Handschlag verweigert. Die Top-Demokratin zieht ihre Hand zurück, zuckt leicht mit den Schultern und lächelt. Es war nicht klar, ob Trump sie absichtlich ignoriert. Pelosi twittert anschließend ein Foto von der Szene und schreibt: „Demokraten werden niemals aufhören, die Hand der Freundschaft auszustrecken“.
Ebenso erwähnt Trump auf dem Kapitolshügel das Amtsenthebungs-Verfahren mit keinem Wort.
Die Demokratin revanchiert sich am Ende der Ansprache ebenfalls mit einer zuvor nie gesehenen und dann von den Republikanern viel kritisierten telegenen Geste. Sie hält die Kopie des Redemanuskripts von Trump hoch, zerreißt genüsslich die Seiten und schleudert sie auf ihr Pult. Hinterher sagt sie: Es sei „das Höflichste, was man tun konnte“.
Auch hier dürfte der Faktor Wut mitgespielt haben– auch über den Verlauf des Amtsenthebungs-Verfahrens, bei dem es für die Demokraten nie eine realistische Chance gab, den Präsidenten tatsächlich zu entmachten. Es sind Szenen, die für die tiefe politische Spaltung in den USA stehen und einen Verfall der guten Sitten auf beiden Seiten. Pelosi hatte schon im Vorjahr bei Trumps Rede zur Lage der Nation ihre Geringschätzung des Präsidenten gezeigt: Dort beklatschte die Demokratin das Staatsoberhaupt auf eine abfällige Art und Weise. Auch in den folgenden Monaten verbesserte sich das Verhältnis der beiden nicht. Pelosi kritisierte beispielsweise den Präsidenten, weil er aus ihrer Sicht mit einem Wutanfall aus einem Treffen gestürmt war. „Ich bin fünffache Mutter und neunfache Großmutter (…) Ich erkenne einen Wutausbruch, wenn ich ihn sehe.“
Mit seiner Rede serviert Trump den Bürgern eine Mischung aus Prahlerei, Patriotismus und inszenierter Theatralik, bei der zwei Argumente dominieren: Der Wirtschaft geht es so gut wie nie zuvor. Und sozialistische Kandidaten bei den Demokraten – gemeint waren damit Bernie Sanders und Elizabeth Warren – würden mit ihrem Sozialismus das US-Gesundheitssystem zerstören wollen. Gleichzeitig attackiert Trump immer wieder „die gescheiterte Politik der vorausgegangenen Regierung“, ohne Barack Obama auch nur ein einziges Mal beim Namen zu nennen.
Nur ganz selten – wie beispielsweise beim Thema Justizreform, von der auch überdurchschnittlich viele Afro-Amerikaner profitieren – erheben sich Volksvertreter der Demokraten zum Applaus. Zwei von ihnen verlassen sogar vorzeitig das Plenum. Denn immer wieder reitet der Präsident Frontal-Attacken – wie bei seiner Feststellung, die „radikale Linke“ wolle allen illegalen Grenzgängern eine kostenlose Gesundheitsfürsorge geben, was nur noch mehr Migranten anlocken werde.
Dazwischen gibt es inszenierte Szenen, die an die Emotionen der Zuschauer appellieren sollen. Der schwer krebskranke konservative Radiomoderator und eiserne Trump-Unterstützer Rush Limbaugh erhält die „Freiheitsmedaille“, die höchste zivile Ehrung im Land. Eine Soldaten-Gattin und ihre Kinder im Saal werden von der Rückkehr des Vaters aus Afghanistan überrascht. Eine Afro-Amerikanerin und ihre schulpflichtige Tochter werden von Trump mit einem Stipendium bedacht. Und am Ende verspricht der Präsident: „Das Beste kommt doch erst noch“. Es ist der Moment, in dem Nancy Pelosi damit beginnt, das Trump-Manuskript zu zerreißen.