Potsdam – Im Auftreten könnten die beiden kaum unterschiedlicher sein. Die Grünen-Vorsitzende und designierte Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, die manchmal kaum schnell genug in Worte fassen kann, was ihr durch den Kopf geht – und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, der Journalisten auch schon mal mit nordisch-knappen Ein-Wort-Antworten zu verblüffen sucht. Doch beide teilen nicht nur den Wohnort Potsdam, wo sie praktisch nur der Heilige See trennt. Sie kämpfen auch beide im Potsdamer Wahlkreis 61 um das Direktmandat bei der Bundestagswahl am 26. September. Historisch ist das Duell der beiden einmalig.
Grünen-Chefin Baerbock, die der Parteivorstand am Montag als Kanzlerkandidatin nominiert hat, will einen Neuanfang. „Mit dieser Bundestagswahl endet eine politische Epoche und eine neue Zeit beginnt“, sagte sie am Samstag in Potsdam vor ihrer Wahl zur Spitzenkandidatin der Brandenburger Grünen.
Wo der politische Gegner sie angreifen wird, kann sich Baerbock denken. Bei ihrer Kür zur designierten grünen Kanzlerkandidatin nahm sie die Kritik vorweg: „Ja, ich war noch nie Kanzlerin, auch noch nie Ministerin. Ich trete an für Erneuerung. Für den Status quo stehen andere.“ Ihre mangelnde Regierungserfahrung möchte sie als Chance für frischen Wind verstanden wissen. Zweifel an ihrer Eignung für das höchste Regierungsamt darf sie sich selbst keinesfalls anmerken lassen – und das tut sie auch nicht, bei aller „Demut“ vor dem Amt.
Die Lage ihrer Partei könnte sich Baerbock fünf Monate vor der Bundestagswahl kaum besser wünschen. In Umfragen liegt sie konstant über 20 Prozent. Im Vergleich zum Ergebnis der Bundestagswahl 2017 wäre das mindestens eine Verdopplung. Erklärtes Ziel ist allerdings, der Union das Kanzleramt abzujagen. Eine Forsa-Umfrage platzierte die Grünen diese Woche sogar vor der Union – bleibt abzuwarten, ob das nicht nur ein Ausreißer war.
Die Top-Themen der Grünen bleiben Klima- und Umweltschutz – doch für das Kanzleramt müssen die Wähler die Ökopartei auch in anderen Bereichen für kompetent halten. So spricht Baerbock häufig über die Situation von Kindern in der Corona-Krise, Co-Chef Robert Habeck über gesellschaftlichen Zusammenhalt. Verbote fordern sie längst nicht mehr, stattdessen Rahmenbedingungen, die umweltfreundliches Verhalten und nachhaltigen Konsum attraktiver machen, als sie es heute sind.
Die SPD ist seit mehreren Monaten wie festgetackert bei 15 bis 18 Prozent in der Wählergunst. Wenn es nach den Genossen geht, müsste es bald losgehen mit der Aufholjagd.
Die Haupthoffnung von Kanzlerkandidat Olaf Scholz und Co. auf einen Sieg im September entzündet sich an Amtsinhaberin Angela Merkel. Beziehungsweise der Lücke, die sie reißen wird, und der Erwartung, dass den Wählern der Mitte dies rechtzeitig dämmert – und sie ihr Kreuz lieber bei dem erfahrenen Vizekanzler Scholz machen als bei der Konkurrenz. Jetzt könnte es losgehen mit frischem Zulauf für die SPD. Oder reumütiger Rückkehr – nachdem mit Baerbock eine Kandidatin ohne Regierungserfahrung aufgestellt ist und mit Armin Laschet jemand, dem viele die Erfahrung in letzter Zeit zumindest nicht so angemerkt haben.
Scholz ist präsent im Wahlkreis, ob er einen Wissenschaftspark besucht oder an einer Diskussionsrunde mit Hoteliers teilnimmt. Mit Scholz wissen die Leute, was sie haben. Seit August 2020 ist klar, dass er der SPD-Kandidat ist. Streit gab es darüber keinen. Das Äußerste, was sich Scholz an Gefühlsausbrüchen in der Öffentlichkeit leistet, ist manchmal ein verschmitztes Grinsen – ansonsten: Berechenbarkeit pur. Mit seinem jüngsten Bekenntnis zum ökologischen Umbau zu einer klimaneutralen Wirtschaft würde er auch prima passen für ein Rot-Grün-plus-x-Bündnis. Es wird also spannend, wenn der Mann mit sprödem Charisma und Baerbock um jene Wähler der Mitte kämpfen, die Laschet das Regieren vielleicht nicht so zutrauen. M. HERZOG/
O. VON RIEGEN/B. WEGENER