In 30 bis 90 Tagen wird Kabul fallen

von Redaktion

Raus, schnell raus: Die Bundesregierung hat Deutsche aufgefordert, Afghanistan zu verlassen. Doch Stefan Recker von Caritas International will dort bleiben, „weil die humanitäre Lage das erfordert“. Er schildert seine Eindrücke in einem Skype-Interview mit unserer Zeitung.

Herr Recker, wie lange sind Sie schon in Afghanistan und was machen Sie jetzt dort?

Ich war in den letzten 25 Jahren mit verschiedenen Hilfsorganisationen insgesamt 15 Jahre in Afghanistan, seit Mitte 2014 bin ich Landesvertreter von Caritas international. Wir führen Hilfsprojekte im sozialen Bereich durch, aber auch klassische Nothilfe und Entwicklungshilfeprojekte.

Wie hat sich die Lage in dieser Zeit verändert?

Ab 2002 hatte man das Gefühl, es ginge bergauf in Afghanistan, ab 2010 änderte sich das langsam. Der große Umschwung kam 2014, als die internationale Unterstützungstruppe ISAF ihr Mandat beendet hatte. Damals ging ein großer Teil der ausländischen Truppen weg. Als in diesem April die internationalen Truppen ihren Abzug angekündigt haben, kippte die Lage endgültig. Meine afghanischen Kollegen haben Angst, wobei wir als Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen nicht bedroht sind. Ganz im Gegenteil.

Warum nicht?

Die Taliban haben in den Gebieten, die sie erobert haben, Büros von Hilfsorganisationen vor Plünderungen geschützt. Denn sie brauchen deren Hilfe, wenn sie das Land übernehmen. Die Hilfsorganisationen sind die Einzigen, die hier soziale Dienste anbieten. Die Regierung bringt nichts zustande, was Not- und Entwicklungshilfe betrifft. Und die Taliban werden das auch nicht.

Was ist mit Regierungsmitarbeitern?

Die Taliban suchen nach Polizisten und Soldaten. Wenn sie die nicht finden, entführen sie deren Angehörige, damit die Soldaten sie auslösen. Dabei kam es schon zu Morden, übelsten Gewalttaten und Massakern, wie ich von Mitarbeitern gehört habe.

Warum hat sich die Lage nun noch einmal verschärft?

Seit letzter Woche nehmen die Taliban auch Provinzhauptstädte ein. Ich glaube, sie schreckten lange davor zurück, weil sie dann dort auch eine Verwaltung aufbauen, sich um Wasser- und Stromversorgung kümmern müssen. Aber die Doha-Fraktion der Taliban hat sich wohl doch dazu entschlossen, nachdem bei einem Gespräch am 17. Juli die Regierung nicht die Waffen strecken wollte. Jetzt sieht es so aus, als würden die Taliban bald das Land übernehmen.

Was ist die Doha-Fraktion der Taliban?

Im Westen sieht man die Taliban als eine Front. Tatsächlich gibt es aber drei Führungslinien. Und die meisten ausländischen Politiker reden nur mit der gemäßigten Doha-Fraktion. Es gibt aber auch noch zwei Fraktionen, die in Pakistan sitzen, und Feldkommandeure, die ihr eigenes Ding machen, und darunter sind einige Hardcore-Fundamentalisten.

Fühlen sich viele Afghanen im Stich gelassen?

Ich denke schon. Wobei es abzusehen war, dass die internationalen Kräfte nicht unbegrenzt bleiben werden. Und die afghanischen Eliten haben es nicht geschafft, in 20 Jahren einen funktionierenden Staat aufzubauen. Viel Geld ist in Besitztümer reicher Afghanen geflossen. Donnerstags sind die Flieger voll mit Politikern, die übers Wochenende in ihre Villen in Dubai fliegen. Da ist auch viel von afghanischer Seite schiefgelaufen. Einer der Fehler des Westens ist, dass er alle korrupten Regierungen bedingungslos unterstützt hat. Und seit 2001 waren alle korrupt.

Wie groß ist die Angst vor den Taliban?

Unter den Taliban wurden bis 2001 viele unterdrückt, und die wirtschaftliche Lage war nach dem Bürgerkrieg katastrophal. Inzwischen geht es vielen besser, auch der Mittelschicht. Viele haben daher auch Angst vor einem erneuten wirtschaftlichen Niedergang, nicht nur vor Gewalt.

Was meinen Sie, wann die Taliban Kabul einnehmen?

Der US-Geheimdienst geht davon aus, dass es in 30 bis 90 Tagen der Fall sein wird.

Werden Sie dortbleiben?

Das hängt von unserer Geschäftsleitung ab. Aber ich würde gern hierbleiben – auch als Signal an meine afghanischen Kollegen.

Haben Sie keine Angst?

Angst habe ich schon. Aber wenn ich mich davon leiten ließe, wäre ich wohl an der falschen Stelle.

Interview: Pia Rolfs

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