München – Man kann ausgeladen werden und trotzdem erscheinen, so wie Christian Leye. Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch hatte ihn und die anderen Abtrünnigen eigentlich gebeten, nicht zur Sitzung zu kommen. Aber erstens hört man schon lange nicht mehr aufeinander. Und zweitens hatte Leye den Noch-Kollegen ein Angebot zu unterbreiten. Es gehe um die geordnete Abwicklung der Fraktion, sagte er, ohne konkret zu werden. „Wir trennen uns, aber wir trennen uns wie Erwachsene – kein Rosenkrieg.“
Seit Sahra Wagenknecht mit neun Abgeordneten aus der Linken ausgetreten ist, um eine neue Partei zu gründen, ist die Fraktion im Schwebezustand. Sie sei politisch am Ende, sagt nicht nur Bartsch, im Grunde klinisch tot. Die Frage ist nur noch, wer den Stecker zieht. Und wann.
Wagenknecht und Co. haben beantragt, vorerst in der Fraktion zu bleiben, was manche ungeheuerlich finden. Gestern wurde beraten – und der Zustand wird noch ein wenig andauern. „Wir haben entschieden, dass wir in der nächsten Woche die Liquidation einleiten werden“, sagte Bartsch am Dienstagabend nach der Fraktionssitzung. Einen konkreten Zeitpunkt dafür nannte er aber nicht.
Die Lage ist durchaus verzwickt. Sobald es zum formalen Bruch kommt, hat keines der beiden Lager mehr die nötige Größe, um eine Fraktion zu bilden. Stattdessen würde man sich wohl zu parlamentarischen Gruppen zusammenschließen. Inhaltlich wäre das konsequent, die Folgen wären aber schmerzhaft. Zwar verfügen Gruppen über bestimmte Privilegien, können Anträge stellen und Mitglieder in Ausschüsse entsenden. Aber sind Fraktionen nicht gleichgestellt. Sie haben weniger Redezeit und bekommen weniger Geld. Das träfe vor allem die mehr als 100 Mitarbeiter.
Die 9,3 Millionen Euro, die die Linksfraktion 2022 für Personal ausgab, stünden künftig nicht mehr zur Verfügung. Einem Teil der Mitarbeiter müsste man kündigen. Den schwarzen Peter möchten weder das Lager um Bartsch noch das um Wagenknecht haben, zumal man sich – trotz aller Differenzen – jeweils als soziale Kraft definiert. Auch deshalb schieben beide Seiten das Ende hinaus, so lange es geht.
Man kann das pragmatisch sehen, so wie Bayerns Linken-Chefin Adelheid Rupp. Aus ihrer Sicht müssten sich die zwei konkurrierenden Gruppen so lange zusammenraufen, dass den Mitarbeitern zumindest keine Kündigung vor den Weihnachtsfeiertagen droht. „Aber danach muss es einen klaren Schnitt geben“, sagte sie unserer Zeitung. „Zwei konkurrierende Parteien können keinesfalls in einer Fraktion bleiben.“
Viele in der Partei sträuben sich, darunter Ex-Linkenchef Bernd Riexinger und die jetzige Co-Vorsitzende Janine Wissler. Dies sei „kein haltbarer Zustand“, sagte sie vor der Sitzung. Man müsse „den Übergang jetzt so schnell wie möglich hinkriegen“. Der Beschluss von gestern soll wohl beide Seiten zufriedenstellen: Die „Liquidation“ ist fix, nur der Zeitpunkt noch nicht.
Das taktische Spiel auf Zeit ist Fraktionssache, in der Partei hinterlässt der Bruch indes längst Spuren – mitunter überraschende. Bayerns Linke etwa hat den Wagenknecht-Wirbel bislang gut verkraftet. Natürlich gebe es Austritte, sagt Landeschefin Rupp. „Aber zugleich haben wir die höchsten Beitrittszahlen seit über zwei Jahren.“ Manche kehrten nach dem Wagenknecht-Bruch erleichtert zurück, andere sähen schlicht die Notwendigkeit einer linken Kraft. „Die Gefühlslage in der Partei ist zwiespältig: Viele Abgänge bedauert man, aber es gibt auch ein großes Durchatmen.“
Das Gefühl der Befreiung nach langem Zwist ist auf beiden Seiten zu spüren. Wer am Ende wirklich profitier, ist aber kaum zu sagen. Wagenknecht will ihre neue Partei Anfang nächsten Jahres gründen, das Wählerpotenzial ist Umfragen zufolge groß. Ob sie es auch ausschöpfen kann, ist eine andere Frage. mit dpa