von Redaktion

Angst, Scham, Unsicherheit: Ein Leben mit Epilepsie birgt viele Hürden und der Weg zur Selbstakzeptanz ist oft lang, schildert eine betroffene Wasserburgerin. Wie ihr Alltag mit Epilepsie aussieht und wie Dr. Tobias Winkler, Chefarzt am kbo-Inn-Salzach-Klinikum, die Krankheit behandelt.

Altlandkreis Wasserburg – Annagrete Müller ist nervös. Über ihre Krankheit zu sprechen, fühlt sich an wie eine Art „Coming-out“, sagt sie. Von außen ist ihr Leiden unsichtbar. Denn Annagrete Müller hat Epilepsie. Die Krankheit löste lange Zeit bei ihr das Gefühl aus, anders zu sein. Mittlerweile kann sie etwas offener damit umgehen. Erkannt werden will sie dennoch nicht – aus Schutz, sagt sie. Annagrete Müller heißt eigentlich anders. Zu ihrer Identität sei nur so viel gesagt: Sie ist Mitte 40, wohnt im Raum Wasserburg und arbeitet im Sozialbereich.

Erster Anfall auf
der Klassenfahrt

Ihren ersten Anfall hatte Müller mit 13 Jahren – ausgerechnet auf Klassenfahrt. Ihre Mitschüler hätten alles mitgekriegt. Danach sei das Thema jedoch nicht angesprochen worden. „Es wurde damals tabuisiert“, sagt sie. Bis zur Diagnose Epilepsie hat es einige Jahre gedauert. Als sie ein Teenager war, zeigte sich die Krankheit in Form von Krampfanfällen. Nachts fiel sie dadurch aus dem Bett, schürfte sich die Haut auf und weckte ihre Geschwister. Mit der Zeit haben sich die Symptome verändert. Heute leidet Müller unter Bewusstseinstrübungen, verharrt in einer Bewegung und ist für etwa vier Minuten nicht ansprechbar. Ein solcher Anfall kündigt sich bei ihr durch eine Aura, also eine Art Unbehagen, das einem epileptischen Anfall vorausgeht, an. So könne sie sich noch einen ruhigen Ort suchen, bevor es losgehe.

Epilepsie ist ein Leiden mit vielen verschiedenen Gesichtern und eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, erklärt Dr. Tobias Winkler, Chefarzt im Fachbereich Neurologie am kbo-Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg. Das Gehirn neigt dabei dazu, wiederholt Anfälle auszulösen. Manche Betroffenen haben kurze „Aussetzer“, andere ausgeprägte Krampfanfälle mit Bewusstseinsverlust. Wieder andere würden plötzlich auftretende Gerüche, Lichtblitze oder Angstgefühle wahrnehmen.

Die Ursachen für Epilepsie sind dabei gleichermaßen vielfältig. „Bei manchen Menschen liegt eine genetische Veranlagung vor, bei anderen sind Kopfverletzungen, Schlaganfälle, Entzündungen des Gehirns oder Stoffwechselstörungen Auslöser“, erklärt Winkler. In vielen Fällen lasse sich die genaue Ursache nicht eindeutig feststellen. Winkler betont, dass Epilepsie weit verbreitet ist und Menschen jeden Alters betreffen kann. Annagrete Müller vermutet, dass ihre Epilepsie einen genetischen Ursprung hat. In ihrer Verwandtschaft sind noch zwei weitere Personen daran erkrankt.

Für Betroffene kann die Epilepsie den Alltag stark einschränken. Risiken bestehen beispielsweise beim Autofahren, Schwimmen oder Arbeiten mit Maschinen, erklärt Winkler. „Deshalb gelten hier mitunter Einschränkungen“, erklärt der Mediziner. Aber auch psychisch ist die Belastung oft groß. „Viele Menschen erleben Angst vor dem nächsten Anfall, Scham oder Unsicherheit“, erklärt Winkler. In der Gesellschaft würden sich auch Vorurteile gegenüber Erkrankten halten, die das Selbstwertgefühl mindern würden.

Mit Scham und Unsicherheit – besonders zur Schulzeit – hatte auch Annagrete Müller zu kämpfen. Oft habe sie sich gefragt: „Warum krieg’ ich das?“ Es fühlte sich für sie negativ und wie eine Art Strafe an. „Der Schritt zur Selbstakzeptanz war ein langer Weg“, sagt Müller.

Besonders wichtig sei deswegen für Betroffene ein soziales Netzwerk und ein stärkendes Umfeld, sagt Müller. Ihre Eltern und Geschwister und auch ihr Ehemann unterstützen sie. Oft müsse sie sich jedoch auch aufraffen, ihre sozialen Kontakte zu pflegen, sagt sie. Durch die Krankheit sei sie zurückhaltender geworden. Dabei seien soziale Kontakte wichtig für eine psychische Ausgeglichenheit und dadurch auch essenziell für den gesundheitlichen Gesamtzustand und die Epilepsie, sagt sie.

Auch deswegen will Müller ihre Geschichte erzählen, um aufzuklären, anderen Betroffenen Mut zu machen und zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. In der Gesellschaft herrsche wenig Wissen über neurologische Erkrankungen und die Auswirkungen, sagt sie. Die Mitte 40-Jährige traut sich aufgrund ihrer Anfälle, die etwa alle sechs bis acht Wochen auftreten, beispielsweise nicht Auto zu fahren. So sei sie immer darauf angewiesen, dass sie jemand fahre. Alkohol ist sowohl wegen der Medikamente als auch aufgrund der Krankheit tabu, sagt sie.

Psychologische
Betreuung

Mit ihrem Leiden ist Annagrete Müller nicht die Einzige. Allein in Bayern leben laut dem Landesverband Epilepsie Bayern mehr als 100000 Menschen mit Epilepsie. Behandelt werden können Personen mit der Krankheit etwa im kbo-Inn-Salzach-Klinikum in Wasserburg. Patienten werden hier ambulant und stationär betreut, erklärt Chefarzt Winkler.

„Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung, die wir gemeinsam mit dem Romed-Klinikum anbieten“, sagt der Mediziner. Laut Winkler gehört auch eine psychosoziale Begleitung zu einer modernen Epilepsie-Behandlung. „Das Gespräch, Aufklärung und Akzeptanz sind genauso wichtig wie Medikamente oder Diagnostik“, sagt er.

Auch Annagrete Müller setzt sich auf verschiedene Weise mit ihrer Krankheit auseinander. Zum Beispiel schreibt sie seit ihrem ersten Anfall Tagebuch. Mittlerweile verarbeitet sie die Epilepsie auch in Gedichten. Eines davon trägt den Namen „Anders sein – Wertvoll sein“.

Epilepsie – ein Leiden mit vielen Gesichtern

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