„Die Kirche ist beratungsresistent“

von Redaktion

Interview Warum Anwalt Schulz gegen Erzbischof Gänswein vorgeht

Traunstein – Peter H. missbrauchte sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Bayern Kinder. Seine Vorgesetzten in der Kirche wussten offenbar Bescheid. Weil ihm durch Peter H. Schlimmes widerfuhr, fordert Andreas Perr aus Garching vor dem Landgericht Traunstein Schmerzensgeld: 300000 Euro vom Bistum München-Freising und Peter H., 50000 Euro von den Erben des verstorbenen Joseph Ratzinger, des früheren Papstes Benedikt XVI. Der stimmte in seiner Zeit als Kardinal der Erzdiözese München-Freising einer Versetzung H.s nach München-Freising zu, obwohl er offenbar über dessen Untaten informiert gewesen war. Das belegt auch der „Traubensaft“-Brief, der dem Missbrauchspriester wegen seiner Alkoholgefährdung harmlosen Saft anstelle des Messweins erlaubte.

Andreas Perrs Anwalt Andreas Schulz nimmt nun auch Benedikts Sekretär Georg Gänswein ins Visier. Der sei Teil eines „Vertuschungskartells“ gewesen. Mit den OVB-Heimatzeitungen sprach Schulz über den Wert eines Lebens, die Schuld eines Sekretärs und die Zustände der Kirchen.

Im Garchinger Missbrauchsprozess haben Sie im Namen Ihres Mandanten kürzlich Erzbischof Gänswein „den Streit verkündet“. Was erhoffen Sie sich davon?

Gänswein hat als hoher Funktionsträger in den Fällen Perr in Traunstein beziehungsweise Fesselmann in Essen die kirchliche Vertuschungsstrategie aktiv mitgetragen. Wenn auch zu einem viel späteren Zeitpunkt, als im Rahmen des Münchner WSW-Gutachtens die Rolle Joseph Ratzingers in der Causa Peter H. auf dem Prüfstand war. Joseph Ratzinger kannte die Vita criminalis von Peter H. sehr wohl, wie der „Traubensaft-Brief“ zeigt. Das Abstreiten und Leugnen, bis es nicht mehr ging, hat bei beiden Betroffenen zu einer erneuten Schadensvertiefung geführt. Nicht zuletzt erhoffen wir eine weltliche Aufklärung durch deutsche Gerichte, wie seine Rolle in Sachen Vertuschung des klerikalen Missbrauchs wirklich war. War er der fürsorgliche Sekretär vom Papst Benedikt XVI. oder der geheime Strippenzieher in den Tiefen des Vatikans?

Gänswein habe quasi die Rolle eines „geheimdienstlichen Koordinators“ übernommen. Dramatisieren Sie da nicht die Rolle des ehemaligen Papst-Sekretärs?

Ich untertreibe eher. Das Buch von Gianluigi Nuzzi – „Seine Heiligkeit. Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Benedikt XVI.“ unterstreicht diese Einschätzung durch Veröffentlichung von Originaldokumenten, wonach Gänswein die Schnittstelle zum Papst war. In dieser Funktion ging alles über seinen Schreibtisch. Ohne sein Okay lief nichts. Er entschied, was dem Papst vorgelegt oder gesagt wurde. Seien es die internen Machtkämpfe der unterschiedlichen Fraktionen zwischen den Bischöfen, beziehungsweise der päpstlichen Nomenklatura oder die vielen Skandale im Zusammenhang mit Geldwäsche und anderen Verbrechen oder nur skandalisierte Personal-Rochaden. Er war der Schattenmann hinter Ratzinger. Kann man alles in Nuzzis Buch nachlesen, steht aber auch alles in der Klageschrift. Auf 100 Seiten beim Landgericht Essen und Traunstein.

350000 Euro fordert Ihr Mandant als Entschädigung. Klingt nach viel Geld. Aber was ist ein zerstörtes Leben wert?

Das ist die zentrale Frage. Leider hängt die Antwort davon ab, wo der Missbrauch geschah und welche Staatsangehörigkeit das Opfer besitzt. Wir wissen, dass die katholische Kirche in den USA Milliarden US-Dollar an Entschädigung zahlen musste. In Deutschland tut sich die Rechtsprechung aber traditionell schwer, über eine Millionen Euro zu gehen. Bisher ist die Benchmark 300000 Euro, einem Urteil des Kölner Landgerichts entsprechend. Hier ist ein Paradigmenwechsel an der Zeit, denn nur exorbitante Entschädigungen können neben der Genugtuungsfunktion auch einen abschreckenden Charakter haben. Das Paradoxon ist, dass die Kirche jährlich eine staatliche Finanzierung in dreistelliger Millionenhöhe für ihr Personal und somit auch für Missbrauchstäter erhält. Wenn dann Missbrauch nicht mehr verschwiegen werden kann, wird er zum Arbeitsunfall umgewidmet, damit die gesetzliche Unfallversicherung für die Folgen aufzukommen hat. So geschehen in Essen. Und die Finanzierung erfolgt jeweils durch den Steuerzahler. Ein Geschäftsmodell, mit dem jeder weltliche Unternehmer wegen Betrug oder Untreue belangt werden könnte.

Wird die Verhandlung irgendwann öffentlich fortgesetzt werden – oder lenkt die Kirche ein?

Sie lenkt erst dann ein, wenn es nicht mehr anders geht. Wenn also entweder ein rechtskräftiges Urteil fällt oder wenn die Folgen des Kollateralschadens „Missbrauch“ teurer werden als eine angemessene Entschädigung. Die Kirche ist beratungsresistent und unbelehrbar. Jedes Unternehmen in vergleichbarer Lage würde zahlen, damit die Erosion des Glaubens aufhört, zumal religiöse Mitwettbewerber zunehmend Gläubige abwerben. Die klerikalen Entscheidungsträger leben noch in einer Welt, wie sie vielleicht vor 500 Jahren funktionierte, aber nicht mehr im Jahr 2024. Deswegen arbeiten wir auch an einer asymmetrischen Rechtsverfolgungsstrategie, um diese Entwicklung zu beschleunigen, damit die Kirche von ihrem „Titanic-Syndrom” ablässt.

Bei der zweiten Klage über 50000 Euro an die Adresse des verstorbenen Joseph Ratzinger: Wie optimistisch sind Sie, dass noch ein Erbe gefunden wird, der die finanziellen Lasten des Ex-Papstes übernimmt?

Einen Erben gibt es immer! Am Ende der Vatikan, der italienische oder der deutsche Staat. Aber das ist mehr eine akademische Frage ohne Praxisrelevanz.

In einem anderen Fall – da geht es um den Augsburger Bischof Mixa – hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Die Übergriffe seien verjährt. Was sollte der Geschädigte, ein gebürtiger Rosenheimer, tun?

Das hängt davon ab, was der Betroffene will. Will er seinen inneren Seelenfrieden finden, sollte er alles vergessen. Kann oder will er das nicht, sollte er es so machen wie Perr oder Fesselmann. Oder er sollte den Glauben wechseln.

Angesichts der verheerenden Schäden an der Psyche der Betroffenen: Sollte für schweren Missbrauch die Verjährungsfrist verschwinden?

Hier ist der Gesetzgeber gefordert. Die Verjährung ist ein kirchlicher Notausgang, der unbedingt verschlossen werden muss. Das rettende Ufer der Verjährung muss unerreichbar für Missbrauchstäter sein.

In vielen Fällen sind die Täter bereits verstorben. Was hat der Geschädigte dann noch von einem gerichtlichen Verfahren, sieht man mal von einem möglichen Schmerzensgeld ab?

Viele Betroffene finden hier Gehör auf Augenhöhe durch weltliche Richter und werden nicht in der „Kuschelecke“ der kirchlichen Interventionsbeauftragten ruhiggestellt. Es kann ein maßgeblicher Gesundungsfaktor für die verletzte Seele sein.  

Sie haben die katholische Kirche öfter scharf kritisiert. Sehen Sie Anzeichen eines Wandels?

Wohl kaum. Die Verantwortlichen der Kirche haben eine andere Agenda. Ihnen geht es um Machterhalt und Staatskirchenfinanzierung. Der Kollateralschaden „Missbrauch“ ist immer noch nur ein „Ärgernis“, dem durch vermeintliche Transparenzoffensive beigekommen werden soll. Echte christliche Aufarbeitung sollte bei einer Schmerzensgeldzahlung von einer Million Euro aufwärts beginnen. Schließlich gibt die Kirche für ihre Anwälte und PR-Berater auch Millionen aus, ohne dass die erhofften Erfolge für die Auftraggeber eintreten. Aber es ist ja das Geld des Steuerzahlers, das da verbrannt wird. Sicher mag es bescheidene Betroffene geben, die der Kirche „Bestnoten“ ausstellen – aber das berührt nicht das Grundproblem: Wie Missbrauch kompensiert werden muss.

Jüngst hat die evangelische Kirche eine Studie über Missbrauch veröffentlicht. Was ist Ihre Meinung dazu?

Das ist noch viel schlimmer als die katholische Kirche. Diese Täter hatten kein Zölibat und dennoch haben sie Kinder vergewaltigt. Und dort gibt es keine institutionelle Verantwortlichkeit, sondern Verantwortungsdiffusion. Das bedeutet unter dem Strich, immer war ein anderer schuld und muss die Verantwortung tragen. So machen es auch Versicherungen, um aus der Einstandspflicht herauszukommen. Die evangelische Kirche ist noch viel hinterhältiger in ihrer Verteidigung als die katholische. Einige Fälle, die man sich in keinem Albtraum vorstellen kann, werde ich demnächst gerichtsanhängig machen. Dantes Inferno wäre dagegen ein Freizeitpark.

Interview: Michael Weiser

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