Rosenheim – Über beängstigende Strukturen informiert die „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus“ am kommenden Donnerstag, 15. Mai, auf Einladung der Grünen im Landkreis Rosenheim um 19 Uhr im Stellwerk 18, in der Eduard-Rüber-Straße 7. Ein Kenner der radikalen Szene in der Region Rosenheim ist Florian Rieder. Mit ihm sprachen wir über Reichsbürger, Querdenker und rechtsextreme Netzwerke. Und über den Sinn eines AfD-Verbots.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Region Rosenheim besonders gerne aufgesucht wird von Querdenkern, von Reichsbürgern, aber auch von offen rechten Rechtsextremen. Trifft der Eindruck zu?
Wir haben es mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Die Region Rosenheim ist keine Ausnahme, aber auch nicht der Nazi-Hotspot schlechthin. Überall, wo man hinschaut, findet man extrem rechte Strukturen. In der Region sind alle relevanten Spektren der extremen Rechten aktiv. Der „Dritte Weg“ zum Beispiel. Oder auch das verbotene „Blood and Honour“- Netzwerk. Da gab es vor wenigen Jahren einen Prozess. Vor Gericht stand auch ein Oberaudorfer, der dieses Netzwerk in Bayern mit aufgezogen hatte.
In der Region Rosenheim haben wir auch eine starke Reichsbürgerszene, die regelmäßig Veranstaltungen in einer Gaststätte in Rosenheim macht.
Während der Corona-Pandemie waren bei Demos in Rosenheim krude Thesen zu hören.
In Rosenheim gibt es auch eine starke verschwörungsideologische Szene, die aber schon vor Corona da war. Nehmen wir als Beispiel die Gruppe „Bewusst-Treff“. In diesem nach rechts offenen, verschwörungsideologischen, reichsbürgernahen Milieu hat Stefan Bauer (früheres AfD-Mitglied, Anm. der Red.) seine ersten Videos gedreht. Sehr zentral ist eine Person, die als Bürgermeisterkandidat für die AfD aufgetreten ist.
Es gibt Berichte, wonach dieser Kandidat mit Franco A. in Kontakt stand, der rechtsterroristische Anschläge geplant hatte.
Diese Gruppen sind hier offenbar zu Hause und gut vernetzt. Wie kommt das?
Ich glaube, monokausale Erklärungsmuster helfen bei dieser Frage nicht weiter. In der Forschung spricht man oft von Unsicherheitserfahrungen und Perspektivlosigkeit, die einer Wendung zur extrem Rechten vorausgehen.
Die Region Rosenheim ist nicht gerade eine abgehängte Region.
Sie ist genau das Gegenteil. Aber dieser sozialökonomische Status schützt vor rechtem Gedankengut nicht. Wer ein Haus besitzt, der hat etwas zu verlieren. Menschen mit Privilegien sind durchaus anfällig für extrem rechtes Gedankengut, weil sie glauben, dass sie ihren Wohlstand verteidigen müssen – sei es gegen eine Verschwörung oder gegen Minderheiten. Eine andere These zu Corona-Zeiten war diese Alpin-These von Matthias Blume.
Vom eigensinnigen, anarchischen Bergvolk?
Das ist ein bisschen überspitzt. Die These besagt, dass Gebirgsregionen eine Art kleinteilige, naturromantische und auch patriarchale Art der Selbstverwaltung entwickelt haben, die einhergeht mit der Ablehnung zentralistischer Vorschriften. Die Frage, inwiefern das für die Region Rosenheim zutrifft, kann jede und jeder für sich selbst beantworten. Was man aber sagen kann: Eine demokratische Zivilgesellschaft ist ein wirkungsvolles Mittel im Kampf gegen die extreme Rechte. Und wenn es in einer Region mangelnde Rückendeckung für eine demokratische Zivilgesellschaft gibt, dann können sich dort extrem rechte Strukturen etablieren und stärker werden. Als positives Beispiel könnte man die Stadt München nennen, die prodemokratisch aktiv ist und in der es auch eine entsprechend engagierte Zivilgesellschaft gibt.
Was könnte sich da in Rosenheim verbessern?
Es gibt in Rosenheim durchaus eine aktive Zivilgesellschaft, die vieles richtig macht. Und ich glaube, es wäre wichtig, dass die Politik dieser Zivilgesellschaft den Rücken stärkt und ihr nicht in den Rücken fällt.
Spielen Sie damit auf die Sanktionen dieser Protestaktionen gegen den früheren AfDler Stefan Bauer im Stadtrat an?
Das ist vielleicht einer der Fälle, wo man sieht, wie man die Zivilgesellschaft besser unterstützen könnte. Ich glaube, dass es da vielfältige Möglichkeiten gibt. Ich halte das Vorgehen des Oberbürgermeisters nicht gerade für sinnvoll, wenn man Rechtsextremismus bekämpfen oder eine demokratische Zivilgesellschaft stärken will.
Die extreme Rechte hat viele Gesichter, bis hin zum intellektuell wirkenden Vordenker. Wie arbeitsteilig ist die rechtsextreme Szene in Rosenheim?
Wir haben alle Spektren der extremen Rechten in der Region Rosenheim. Es gibt da einige Netzwerke, die Hand in Hand gehen und zusammenarbeiten. Den „Bewusst- Treff“ habe ich schon erwähnt. Auch die „Klartext“-Zeitung ist so ein Beispiel. Oder nehmen wir diesen Waffenhändlerring bei Tuntenhausen. Wir hatten da ein Milieu aus Reichsbürgern und organisierter Kriminalität, mit Verbindungen bis hin zur AfD. Das sind durchaus verschiedene extrem rechte Akteure, die oft zusammenarbeiten und einander die Bälle zuspielen.
Wie groß ist denn die Gefahr, die für eine freiheitlich aufgestellte Gesellschaft besteht?
Wenn man sich in der Statistik der Polizei die politisch motivierte Kriminalität von rechts im Bereich des Präsidiums Oberbayern Süd anschaut, gab es bei den rechtsextrem motivierten Straftaten im letzten Jahr einen Anstieg um 43 Prozent. Wenn man ins Jahr 2008 zurückgeht: Da hatte man „nur“ 168 Fälle. Und 2024 eben 349. Das sind mehr als doppelt so viele.
Vielleicht, weil die Polizei genauer hinsieht?
Das müssten Sie die Polizei fragen. Aufschlussreich ist der Blick auf die Ebene der Einstellung. Sichtbar ist das im Wahlverhalten, auch in der Region Rosenheim: Der Stimmenanteil der AfD stieg von 8,7 Prozent im Jahr 2021 auf 19,9 Prozent bei der jüngsten Bundestagswahl. Alles, was an Denkmustern und Vorstellungen bei vielen Menschen schon lange da war, findet nun seinen Ausdruck. Einen Ausdruck auf der Straße in Form von Demonstrationen, einen Ausdruck in der polizeilichen Kriminalstatistik oder einen Ausdruck in Wahlen. Mit der AfD als parlamentarischer Arm der extremen Rechten. Die große Gefahr geht von der neuen rechten Strategie der Metapolitik aus.
Was meinen Sie mit
„Metapolitik“?
Im vorpolitischen Raum aktiv zu sein und eine Diskursverschiebung herzustellen. Dahinter steht die Idee, dass der Erringung der politischen Macht eine sogenannte Diskurshegemonie im kulturellen Bereich vorausgeht, die sich in der Herrschaft über Begriffe, Vorstellungen und kulturell einflussreiche, soziale Positionen auszeichnet. Die Strategie ist in den vergangenen Jahren unübersehbar. Nicht nur in Deutschland.
Wenn man sich die Weltlage gerade anschaut, ist der illiberale Autoritarismus auf dem Vormarsch. Autokraten werden durch freie, demokratische Wahlen gewählt und legitimiert. Aber dann werden eben Menschen- und Freiheitsrechte verletzt und der Rechtsstaat nicht mehr respektiert.
Auch die NSDAP ist nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen, sondern mit Wahlen. Und dann hat sie innerhalb kürzester Zeit die Demokratie abgeschafft und einen faschistischen Terrorstaat errichtet.
Mit Billigung der konservativen Eliten.
Wie man in der Region Rosenheim sehen kann: Dort gab es 1920 die erste NSDAP-Ortsgruppe außerhalb Münchens – in Rosenheim. Und bereits 1923 begingen Faschisten in Rosenheim einen Mord an einem Gewerkschafter. 1923 war die NSDAP in vielen Bundesländern verboten, in Bayern nicht. In Rosenheim wurde die NSDAP ja sogar zur Notpolizei erklärt, gemeinsam mit vaterländischen Verbänden und Freikorps und Ähnlichem. Wie man auf der Seite des Stadtarchivs sehen kann, wurde die NSDAP gerade in Rosenheim durch mittelständische Gewerbetreibende unterstützt.
Sollte man die AfD verbieten?
Die Angriffe der AfD auf die Menschenwürde, auf den Rechtsstaat, auf das Prinzip der Demokratie, der Gebrauch des rassistischen Volksbegriffs, die Verharmlosung der NS-Zeit, der Geschichtsrevisionismus: Das ist ja alles seit Jahren vielfach dokumentiert.
Es ist schön, dass jetzt auch der Verfassungsschutz zu dieser Erkenntnis gekommen ist – eine Einschätzung, die die Wissenschaft seit Jahren trifft. Wenn man sich das NPD-Verbotsverfahren anschaut: Da hatte das Verfassungsgericht ja festgestellt, die NPD sei verfassungsfeindlich und könnte verboten werden. Wirklich verboten wurde sie nur deswegen nicht, weil sie keine Aussicht hat, an die Macht zu kommen.
Aktuell sehen wir eine rechtsextreme Partei, die ebenfalls verfassungsfeindlich ist, die unsere plurale Demokratie angreift, die völkisch ist. Und von ihr geht – im Unterschied zur NPD – tatsächlich die Gefahr zur Übernahme der Macht aus.
Worin liegt der Nutzen eines Parteiverbots?
Wenn man in die Vergangenheit schaut, waren Parteiverbote durchaus effektiv. Dann hängt es nämlich am Geld. Und an Strukturen. Ich würde sagen, so etwas wie die AfD ist auch eine Jobmaschine für die extreme Rechte.
Ihre eigene Erfahrung mit der „Alternative“?
Als ich mit Kollegen und Kolleginnen aus Sachsen und Thüringen geredet habe, die extrem andere Bedingungen und Probleme haben, hat das einen Meinungsumschwung bei mir bewirkt. Ich muss noch nicht mal Höcke zuhören. Es genügt, wenn ich mir ein Best-of von Alexander Gauland antue. Wenn ich so was höre, dann brauche ich von Menschenwürde nicht mehr reden. Dann brauche ich von einer Erinnerungskultur nicht mehr reden. Dann weiß ich, was in der AfD an völkischem Gedankengut vorhanden ist – und was sie damit vorhaben könnte. Das finde ich gruselig. Ich bin mittlerweile dafür, dass die AfD verboten wird. Ein demokratischer Diskurs ist immer wichtig, und alle demokratischen Parteien haben ihre Berechtigung, sich untereinander aufgrund ihrer Positionen zu streiten. Aber gegen diesen einen Feind sollten alle Demokraten zusammenstehen, egal welche unterschiedlichen Positionen sie sonst haben.
Interview: Michael Weiser
Anmerkung: Florian Rieder spricht von „Kolleg:innen“, also mit Gender Gap. Für die niedergeschriebene Form bevorzugen wir „Kolleginnen und Kollegen“.
Noch eine Besonderheit: Anders als in Interviews üblich verwenden wir kein Porträtbild von Florian Rieder – auf Wunsch des Experten, der sich Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt sieht.