Oberaudorf – Der Wert der heimischen Weidewirtschaft und deren mögliche Gefährdung durch die Rückkehr der Wölfe – ein in der Region Rosenheim heiß diskutiertes Thema. Zu einem Vortrag über Mensch und Wolf im Alpenraum hat Sepp Steinmüller vom Almwirtschaftlichen Verein Oberbayern den bekannten Schweizer Biologen und Autor („Mensch, Wolf“) Marcel Züger eingeladen. Am heutigen Dienstag, 19.30 Uhr, spricht Züger im Kursaal Oberaudorf. Davor erklärt er im OVB, was aus seiner Sicht auf dem Spiel steht.
Viele Kantone, viele Sprachen, und doch ein Miteinander: Die Schweizer sind Meister in der Kunst des Zusammenlebens. Wie klappt das Zusammenleben von Wolf und Mensch?
Zunehmend weniger gut. Früher galt die Schweiz als weitestgehend frei von Wölfen. Wenn ein Wolf gesichtet wurde, haben die Menschen in den Dörfern ihn gejagt. Und wenn er erlegt worden war, gab es einen Festumzug. Das war vor 50 Jahren noch so. Jetzt sollen sich die Menschen wieder an Wölfe gewöhnen. In einer Zahl, die früher nicht vorstellbar war.
Die meisten Rudel sind in Graubünden registriert, Ihrem Heimatkanton. Von wie vielen Wölfen reden wir?
Allein in Graubünden hat es 14 Rudel. Also um die 150 Stück. Das ist ein Drittel vom Schweizer Bestand.
Der fast zehnmal so groß ist wie noch 2019.
Ein Rudel braucht in etwa 250 Quadratkilometer als Revier. Graubünden hat 7000 Quadratkilometer, es könnten sich, was die Lebensraumkapazität betrifft, sogar noch weitere Rudel bilden. Der Bestand wächst immer noch an, obwohl in der Schweiz innerhalb eines Jahres 106 Wölfe erlegt wurden.
Legal oder gewildert?
Das waren alles offiziell verfügte Abschüsse mit Zustimmung des Bundesamtes für Umwelt. Ein Wolf wurde gewildert, das wäre dann der 107. Vielleicht gibt es eine Dunkelziffer, aber ich habe dazu keine Informationen. Das wäre zwar nicht in Ordnung. Aber es würde noch stärker verdeutlichen, wie hoch die Entnahmequote sein müsste, nur um das Bestandswachstum zu stoppen. Im vergangenen Jahr gab es keine Einsprüche von Umweltorganisationen. Die haben offenbar auch eingesehen, dass es so nicht weitergeht.
Klingt nach Frust und Ärger.
Wenn wir in einer Wildnis leben würden, dann wären keine Nutztiere betroffen. Leute, die in Kanada oder Russland leben, wo das Leben einfach rauer ist, verhalten sich außerdem entsprechend. Die haben, wenn sie draußen sind, eine Waffe dabei. Und wenn dann ein Wolf kommt, warten sie auch nicht, bis sie eine behördliche Erlaubnis erhalten. Bei uns ist das dagegen zivilisatorisch geregelt, das hat immer eine gewisse Trägheit. Die Schweiz ist zudem ein dicht besiedelter Lebensraum, wo ich einfach sagen muss: Es funktioniert nicht.
Viele der Wölfe werden im Hochgebirge beobachtet. Muss man als Wanderer oder Skitourengeher Angst haben?
Nein, da sind wir in der Schweiz relativ konsequent. Wenn Wölfe zu nahe an den Menschen herankommen, werden schnell Abschüsse verfügt. Wenn was passiert, wäre das für den Tourismus sehr negativ. Sensibel reagieren übrigens eher die Einheimischen. Da gibt‘s dann schon ältere Leute, die nicht mehr in den Wald gehen, um Pilze zu suchen. Oder Hundehalter, die abends nicht mehr ums Dorf rum spazieren gehen, sondern innerhalb bleiben. Da ereignet sich ein Rückzug auf Raten.
Richtig stressig wird es aber für Tierhalter. Wie geht‘s denen mit der sprunghaft gewachsenen Wolfspopulation in Graubünden?
Für die Kleinviehhalter ist es tatsächlich am schlimmsten. Bis vor fünf oder zehn Jahren hat sich jeder aufs Frühjahr gefreut, nach dem Motto: Ich bin der Erste, der seine Tiere auf die Weide lassen kann. Jetzt schaut jeder, dass er der Letzte ist. Weil man nicht weiß, ob da nicht Wölfe sind. Und wie sie sich verhalten. Denn trotz aufwendigen Herdenschutzmaßnahmen kommt es immer wieder zu Rissen.
Apropos, Herdenschutzhunde sollen wirken. Wie sind die Erfahrungen der Schweizer damit?
Am Anfang hatten die Wolfsschützer behauptet, es reiche, wenn ein oder zwei Hunde bei der Schafherde sind. Die Wölfe würden sich dann nicht mehr hintrauen. Das hat natürlich nicht funktioniert, schon deswegen, weil die Schafe zu weit verteilt waren. Mittlerweile weiß man, dass die Schafe zumindest noch eingezäunt werden müssen. Und das alles funktioniert sowieso nur, wenn Hirten da sind. Also sind es mittlerweile mindestens drei Maßnahmen, die umgesetzt werden müssen.
Klingt teuer und aufwendig.
Im Moment wird das einigermaßen bezahlt. Die Kosten für die öffentliche Hand dürften bei rund 20 Millionen Franken liegen, pro Jahr! Wir schätzen, dass noch mal der gleiche Betrag an unbezahlter Arbeit anfällt. Viele Hirtenunterkünfte zum Beispiel sind eigentlich nur für eine einzige Person ausgelegt. Weil man aber mit einem Hirten oft gar nicht mehr auskommt, werden zusätzliche Hütten im Frühjahr hochgeflogen und im Herbst wieder runtergeholt. Da wird also extrem viel Geld für eine einzige Tierart aufgewendet. Herdenschutz ist insgesamt aufwendig, fehleranfällig und funktioniert oft sowieso nicht.
In der Region Rosenheim halten sich Gerüchte, ein Bär gehe um. Wie sieht es in der Schweiz mit Bären aus?
Alle ein oder zwei Jahre kommt mal einer aus Norditalien rein und verschwindet dann wieder. Davor war vor knapp 20 Jahren über längere Zeit einer unterwegs. Den sahen wir sogar mal, als wir zur Forstarbeit fuhren. Das Problem bei den Bären ist, dass die klug und wahnsinnig kräftig sind – und dass sie dazulernen. Der, von dem ich grad erzählt habe, war anfangs relativ unauffällig. Irgendwann ging er dann auf den Golfplatz und leerte da die Müllcontainer. Als er dann anfing, Kuchen von Fenstersimsen zu klauen, wurde der Abschussbefehl erlassen. Für mich geht der Wolf schon nicht, und der Bär geht erst recht nicht. Unsere Kulturlandschaft ist dicht bewohnt und auch touristisch genutzt. Das kann von morgens bis abends nur Konflikte geben.
Sie sind Biologe. Ein Fan einer Rückkehr von Bär und Wolf sind Sie offenbar nicht.
Ich bin von Kindesbeinen an nur draußen gewesen und war immer fasziniert von der Natur. Zur Realität gehört aber auch, dass Natur und Artenvielfalt auch davon profitieren, dass wir da sind. Der Alpenraum ist eine Kulturlandschaft, die seit 1.000 Jahren flächendeckend bewirtschaftet wird. Der Mensch nutzt, und die Artenvielfalt profitiert. Wir haben vieles zurückerhalten, das ganz oder fast ausgerottet war. Vor 200 Jahren hatten wir keine Steinböcke mehr, die Rothirsche waren weg, die Rehe, es gab nur noch wenige Gämsen. Auch Steinadler, Bartgeier, Fischotter, Biber sind wieder da.
Ja, Wölfe auch. Und vielleicht bald Bären.
Muss man nun noch diese zwei Großprädatoren in der Kulturlandschaft haben? Wir sind halt nicht in Yellowstone und nicht in Kanada. Gerade weil wir in der Kulturlandschaft der Alpen leben, haben wir eine der höchsten Dichten von Artenvielfalt, die man sich überhaupt vorstellen kann. Die Grünlandwirtschaft, die wir auch in der Schweiz und Sie in Deutschland haben: Da ist vielen gar nicht bewusst, wie einzigartig das ist.
Über was werden Sie bei Ihrem Besuch bei uns in der Region sprechen?
Was ich noch mal wirklich ganz deutlich hervorheben werde, ist die Bedeutung der kleinräumigen Bewirtschaftung dieser Grünlandwirtschaft für die Artenvielfalt. Ich glaube, 60 Prozent der Fläche des Landkreises Rosenheim sind Flora-Fauna-Habitat-Lebensräume, die auf eine Bewirtschaftung angewiesen sind. In den bayerischen Alpen gibt es zahlreiche Arten und Lebensräume, die nach Naturschutzgesetzgebung streng geschützt sind, und die auf die Beweidung oder Wiesenmahd angewiesen sind. Herdenschutz ist da keine Lösung, im Gegenteil, er macht kaputt, was man eigentlich schützen wollte. Wenn man das alles zusammenfasst, dann bleibt nur eine Botschaft: Es braucht einen wolfsfreien Alpenraum.
Michael Weiser