Rosenheim – Dass Nils T. mit Leidenschaft bei der Arbeit ist, ist nicht selbstverständlich. Er steht in der Werkstatt der Fahrradstation Gleis 1 der Caritas in Rosenheim. Seit einigen Jahren ist er nun schon Teil des Teams. Nils T. repariert kaputte Fahrräder. Die Arbeit macht ihm Spaß. Das zeigt sich, als er mit Begeisterung seine Arbeitsschritte erklärt. Reifen flicken oder die Fahrradkette wechseln, all das macht er gerne. Nach der Schule absolvierte er eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker. Doch in dem Beruf blieb er nicht. Denn Nils T. ist an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt. Er leidet an Wahnvorstellungen, Störungen des Ich-Bewusstseins und Halluzinationen.
Offenheit
und Akzeptanz
Eigentlich heißt Nils T. anders, aber Anonymität ist ihm wichtig. „Ich habe schon länger gewusst, dass etwas nicht mit mir stimmt“, sagt er. 2000 fingen die Psychosen an. Nils T. war 20 Jahre alt, als er das erste Mal Stimmen in seinem Kopf hörte, die ihm sagten, was er tun soll.
So befahlen sie ihm unter anderem, sich das Leben zu nehmen. Es folgten drei Krankenhausaufenthalte. „Mittlerweile bin ich durch Medikamente sehr gut eingestellt“, sagt er. Die Stimmen seien zwar noch da, aber er kann sie besser ausblenden.
Als Nils T. vor 24 Jahren die Diagnose erhielt, brauchte es Zeit, bis er sie akzeptieren konnte. Umso wichtiger sei es für ihn gewesen, dass er mit seinem Vater über seine Krankheit reden konnte. Keine Selbstverständlichkeit, wie er weiß. Manchmal fällt es Betroffenen schwer, über psychische Erkrankungen zu sprechen. Das wissen auch Sozialpädagogin Maria Verde und Siegfried Zimmermann, Fachdienstleiter der Caritas-Beratungsstelle für psychische Gesundheit in Rosenheim.
Die beiden wollen über psychische Erkrankungen aufklären und ein Zeichen gegen die Stigmatisierung setzen. „Weltweit ist jeder dritte Mensch im Laufe seines Lebens von einer psychischen Erkrankung betroffen“, sagt Siegfried Zimmermann. In Deutschland seien es jedes Jahr rund 18 Millionen Menschen. Weil das Thema so viele Menschen betrifft, brauche es dringend eine „Normalisierung“. „Wir sollten selbstverständlicher, wohlwollender und unterstützender miteinander umgehen“, sagt Zimmermann.
Ziel sei es, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung in ihrem normalen Lebensumfeld bleiben können und dort die nötige Unterstützung erhalten. Dafür gibt es sowohl für Betroffene als auch für Angehörige jeweils Beratungs- und Hilfsangebote bei der Caritas in Rosenheim, wie beispielsweise den Sozialpsychiatrischen Dienst, den Krisendienst und den „Betrieb für Beschäftigung, Integration und Qualifikation“ (BIQ).
„Die Betroffenen können in ihrer eigenen Wohnung leben und tagsüber an Beschäftigungsprojekten teilnehmen“, sagt Zimmermann. So gebe es zum Beispiel das Buchcafé oder die Fahrradstation am Rosenheimer Bahnhof „Gleis 1“. Psychische Erkrankte erhalten die Möglichkeit, einer geregelten Tätigkeit nachzugehen. Dadurch bekommen sie Struktur in ihren Alltag und können in die Gesellschaft zurückkehren.
Letzteres sei gar nicht mal so einfach. Oft gehe mit einer psychischen Erkrankung Vereinsamung, der Verlust des Jobs und finanzielle Armut einher. Auch der gesellschaftliche Ausschluss ist nicht selten.
Das weiß auch Nina S., die lieber anonym bleiben möchte. Sie leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit einer Angst- und Traumastörung. Die Krankheit tritt nach einem traumatischen Ereignis auf. Bei Nina S. war das 2020. „Da war sehr schnell klar, dass ich so nicht weitermachen konnte, wie in meinem vorherigen Leben“, sagt sie.
Nina S. ging zunächst in eine Psychiatrie und besuchte eine Reha mit Schwerpunkt der Traumatherapie. Derzeit ist sie in einer Selbsthilfegruppe. Am Anfang ihrer Erkrankung zogen sich die meisten Menschen von ihr zurück. „Das ist ganz klar, denn das, was aus mir geworden ist, damit konnte ich selber erst mal nichts anfangen“, sagt Nina S. Mit neuen Freunden versucht sie offen über ihre Krankheit zu sprechen. Doch nicht immer sei das möglich. „Manchmal wird man nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen“, sagt Nina S. Das beziehe sich vor allem auf die Arbeit. Nina S. arbeitet 14,7 Stunden in der Woche. „Man wird schnell bemitleidet und Mitleid brauche ich nicht, sondern eher Akzeptanz.“
Jeder dritte
Mensch ist betroffen
Das sieht Sozialpädagogin Maria Verde ähnlich. Die Gesellschaft müsse offener werden. „Man kann psychische Erkrankungen einem Menschen nicht sofort ansehen“, sagt sie. Deshalb sei es umso wichtiger, die Gesellschaft aufzuklären, um Krankheiten für alle „greifbarer zu machen“. Zudem bräuchte es ihrer Meinung nach auch eine „Interessenvertretung in der Öffentlichkeit“. Wenn Familie und Freunde wegfallen, sei es für die Betroffenen wichtig, einen Ansprechpartner zu haben, der ihre Interessen vertritt.