Rosenheim – Ein moralisches Dilemma: Man steht auf einer Brücke, darunter befindet sich eine Bahnstrecke. Eine Gruppe Menschen arbeitet auf den Schienen, sie tragen Kopfhörer gegen den Lärm. Doch dann nähert sich plötzlich ein Zug, den sie nicht bemerken. Auch auf Rufe reagieren sie nicht, denn sie hören nichts. Jetzt betritt ein übergewichtiger Mann die Brücke. Soll man ihn hinunter schubsen, um die Arbeiter auf den Zug aufmerksam zu machen und sie so zu retten?
16 junge Menschen
nehmen teil
„Ja, hinunter schubsen“, sagen acht der insgesamt 16 Jugendlichen, die am Montag (23. Juni) in Rosenheim an den X-Games teilnehmen. Sie bekräftigen ihre Entscheidung, als sie eine Zusatzinformation bekommen: Der übergewichtige Mann auf der Brücke soll ein Pädokrimineller sein. „Für diese Antwort gibt es fünf Punkte“, sagt eine Frau im weißen Kittel und notiert das auf ihrem Klemmbrett. Die Frau heißt Michaela und führt gemeinsam mit ihrem Kollegen Hamoudi jeweils eine Gruppe der insgesamt 16 Teilnehmer durch die Extremismus-Games, kurz X-Games. Dabei sollen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen lernen, wie schnell man in extremistischen Strukturen landet.
Entwickler kennt viele
Regierungssysteme
Der Entwickler hinter den X-Games ist Alexej Boris. Ursprünglich kommt er aus der Sowjetunion, lebt aber schon lange Zeit in Deutschland. Er kennt also nicht nur die Demokratie als Regierungssystem, sondern auch die Diktatur. „Ich weiß, wie die toxischen, diktatorischen Systeme funktionieren. Da bin ich sehr motiviert, was dagegen zu machen“, erklärt Boris.
So kamen über Umwege die X-Games zustande und das nach 14 Monaten Planungszeit. Das Spiel wurde dabei auf ein Buch gestützt: „Es gibt ein Buch von Sebastian Haffner ‚Das Tagebuch eines Deutschen‘. Er beschreibt, wie von Januar bis Dezember 1933 die sogenannte Gleichschaltung stattgefunden hat“, erklärt der Gründer die Hintergründe. Diese kleinen Schritte, die 1933 dafür verwendet wurden, wollte Boris auch in seinen X-Games umsetzen.
„Das Spiel wird vom Verein Inside Out angeboten“, erklärt Edona Gashi. Sie ist Projektleiterin bei der Gesellschaft zur Förderung beruflicher und sozialer Integration in Rosenheim (gfi). „Dabei handelt es sich um ein Simulationsspiel, bei dem die Teilnehmer erfahren, wie einfach es ist, radikalisiert zu werden“, so Gashi. Sie durchlaufen mehrere Stationen, müssen Entscheidungen treffen wie die mit den Menschen auf den Gleisen.
Doch warum ein ganzes Spiel kreieren und nicht einfach Vorträge zur Prävention halten? „Der Mensch lernt am besten, wenn er spielt“, findet Entwickler Alexej Boris und er muss es wissen, denn sein Projekt hat Anklang gefunden. Ob bei Beamten, in Schulen oder beim Auswärtigen Amt im Libanon: X-Games hat in knapp zehn Jahren viele Abnehmer gefunden. „Wir spielen das im Jahr an die 200 Mal“, betont Boris.
„X-Games ist ein externes Angebot, das man buchen kann“, sagt Edona Gashi von der gfi. Bereits zum dritten Mal fand die Simulation nun in den Räumen in der Gießereistraße in Rosenheim statt. Sie ist ein Teil des Projekts Wissen Werte Wir (W3). „Das ist ein Jugendintegrationsprojekt. Wir setzen uns für Themen der kulturellen Integration und Gleichberechtigung ein“, so Gashi. Verschiedene Jugendgruppen werden dort ausgebildet und erhalten am Ende ein Zertifikat für ihr Engagement.
Bevor es so weit ist, müssen sie allerdings die X-Games zu Ende spielen. „Kommt schon, beleidigt mal die andere Gruppe“, sagt Spielleiterin Michaela mit strenger Stimme, als die Teilnehmer aneinander vorbeigehen. Das ein oder andere Schimpfwort fällt. Bei der letzten Station muss eine der Gruppen ein Mitglied opfern. Es wird abgestimmt, eine demokratische Entscheidung also. Aber ist es auch eine gute?
„Als wir jemanden opfern mussten, habe ich mich schon gefragt, ob das sein muss“, erzählt der 18-jährige Noah danach. Klar, es war ein Spiel, doch ihm sei es dennoch nicht richtig vorgekommen. „Im echten Leben würde ich niemanden opfern“, betont er. Er habe bei dem Spiel einiges über die Mechanismen eines radikalen Systems gelernt. „Man sollte nicht blind irgendwelchen Menschen vertrauen“, sagt Noah. Auch nicht denen im weißen Kittel.
Gut, dass das heute nur Michaela und Hamoudi vom Verein Inside Out waren, die den Teilnehmern nicht wirklich schaden wollten. In der Nachbesprechung diskutieren sie mit den jungen Menschen über den Verlauf des Spiels. „Ist euch bewusst, wann das Spiel angefangen hat?“, fragt Hamoudi in die Runde. Als keiner der Teilnehmer die richtige Antwort weiß, klärt er es selbst auf: „Bereits, als wir unsere Kittel angezogen haben. Da habt ihr uns noch gar nicht gesehen.“ Eigentlich sei es unfair, ein Spiel zu beginnen, ohne die anderen Teilnehmer darüber zu informieren.
Jeder Spieler legt
seinen Namen ab
„Außerdem haben wir euch eure Identität genommen“, sagt Hamoudi. Denn im Spiel musste jeder seinen Namen ablegen und bekam stattdessen eine Nummer. „Ihr wusstet nicht einmal, wer wir sind, und habt uns dennoch vertraut.“ Auch die willkürliche Verteilung von Bonuspunkten für ein schönes Paar Schuhe oder besondere Ohrringe habe man nicht hinterfragt.
„Während des Spiels wusste ich aber auch, dass es nicht echt war“, sagt Samira. Die 17-Jährige findet die X-Games „eigentlich ziemlich lustig“, wie sie selbst sagt. „Wenn es die Realität gewesen wäre, hätte ich mich natürlich anders gefühlt“, betont sie. Samira weiß jetzt, dass sie dann nicht mitmachen würde. „Stattdessen würde ich etwas dagegen unternehmen“, so die 17-Jährige.
Dass die Teilnehmer sich anders verhalten als in der Realität, ist auch Spielentwickler Alexej Boris bewusst: „Natürlich würden das die Menschen in der Realität nicht machen, aber es geht eben darum, dass man diese Mechanismen erkennt.“ Die X-Games sollen Aufklärungsarbeit leisten und jungen Menschen ermöglichen, extremistische Systeme zu erkennen. Egal, ob links, rechts oder religiös.
Wertvolle Tipps
am Ende
Wie man gar nicht erst in solch ein System gelangt, erklärt Hamoudi den Teilnehmern in der Nachbesprechung. „Wenn ihr das Gleiche wie im Spiel noch einmal erlebt, müsst ihr Stopp sagen, misstrauisch sein, nachfragen“, betont er. Und wenn all das nichts bringt, müsse man einfach denjenigen helfen, gegen die sich das System richtet.