Denn sie wissen nicht, was sie tun

von Redaktion

Eigentlich hat Werner Klingelhöffer ja allen Grund, Jürgen Klinsmann dankbar zu sein. Als der damalige Bundestrainer das deutsche Nationalteam in der WM-Vorbereitung 2006 mit Gummibändern um die Beine wie Enten watscheln oder Oliver Kahn auf dem Schwebebalken tanzen ließ, gab sich die Öffentlichkeit ebenso irritiert wie amüsiert, so recht anfangen konnte kaum einer was mit diesen Methoden von Klinsmanns amerikanischen Fitnesstrainern. Der Erfolg aber gab ihnen Recht.

Seitdem fließen viele dieser damals ungewohnten Elemente ins Profi-Training ein, „aber keiner nennt es beim Namen“, hadert Klingelhöffer. „Klinsmann hätte doch sagen können, dass es sich hier um Sportkinesiologie handelt“, er hätte Aufmerksamkeit wecken, sensibilisieren, Bewusstsein schaffen können für eine Methodik, die „nicht nur ins Profi-, sondern vor allem auch in jedes Jugendtraining gehört.“

Dr. Werner Klingelhöffer, Orthopäde aus Bad Tölz, ist ein Pionier der Sportkinesiologie in Deutschland. Im Leben, so Klingelhöffer, gehe es immer um Balance, Probleme entstünden meist aus Disbalancen, ebenso Fehler. Kinesiologie bringe den Sportler in die Balance, stärke ihn physisch und mental. Eine Art von Mentaltraining also? Nein, sagt Klingelhöffer, „der jugendliche Körper definiert sich nicht vorwiegend über das Gehirn, gerade in der Pubertät finden im Körper gravierende und spannende Veränderungen statt. Wir arbeiten uns über den Körper vor zum Gehirn.“ Der Sportkinesiologe spricht von zwei Gehirnhälften, die linke ist die analytische, die rechte die emotionale. „In der Pubertät werden 30 000 Synapsen pro Sekunde zwischen den beiden Gehirnhälften abgebaut, Emotional- und Sozialverhalten geraten in Schieflage.“

Die Sportkinesiologie setzte nun in dem Bereich ein, in dem sich der Heranwachsende definiert. „Wir trainieren die Körperebenen, um den Mittelpunkt des Köpers zu finden. Diese Ebenen werden körperlich trainiert und fördern dabei die Kommunikation der pubertären Baustelle im Gehirn: die Kinder werden sportlicher und lernen besser, weil die Kooperation der beiden Gehirnhälften funktioniert.“

Klingelhöffer berichtet von vielen Erfolgen, erzählt von B-Junioren, die sich nach den sportkinesiologischen Einheiten besser konzentrieren konnten und auch in der Schule besser wurden, von Eltern, die ihren Nachwuchs während der schwierigen Jahre daheim „deutlich ruhiger“ erlebten. „Mittlerweile lassen sich auch viele Lehrer dieses Training zeigen.“

Leistung erst, wenn der Kopf funktioniert

Hans Reitinger, viele Jahre Jugendtrainer und -koordinator bei der SpVgg Unterhaching, schwört auf die Wirkung der Sportkinesiologie: „Leistung bringt man erst, wenn auch der Kopf funktioniert.“ Noch aber setzen die Vereine in erster Linie auf Athletik, „nicht verkehrt“, sagt Klingelhöffer, noch mehr Wirkung aber könne man erzielen, wenn auch kinesiologische Elemente eingebaut werden. „Das muss nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, es bringt schon was, wenn man sie in ein fünfminütiges Aufwärmtraining einbindet.“

Neugierig seien die Trainer, das schon. „Dann stehen sie hinter einem Busch und filmen unsere Übungen mit.“ Zum Beispiel das Spiel, das eine wunderschöne Vorbereitung auf den viel gerühmten One-Touch-Fußball darstellt: „Valentin, Sascha, Lino“, brüllen sie, Tennisbälle fliegen durch die Luft, werden gefangen, weitergeworfen, es geht wild durcheinander, alles in Höchstgeschwindigkeit. Bevor einer den Ball fängt, muss er schon den Namen dessen gerufen haben, der ihn als nächster bekommen soll. Ein verrücktes Spiel, ein spannendes Spiel. Mit großem Lerneffekt: „Aber die Jungs merken das gar nicht, sie haben einfach Spaß“, erklärt Klingelhöffer, schaut in verschwitzte, aber lachende Gesichter und sagt: „So muss es sein, es ist ein gutes Zeichen, wenn sie lachen.“ Dann, weiß er, ist er mit seiner Übung oben angekommen, im Gehirn.

„Die Trainer bauen solche Elemente viel zu wenig ein, weil sie den Hintergrund nicht verstehen, Angst haben, der Fußball käme zu kurz“, glaubt Reitinger. „Sie wissen einfach nicht, was genau sie tun“, glaubt auch Klingelhöffer. Natürlich weiß er, dass im Jugendtraining nicht die Zeit zur Verfügung steht, die etwa die Profis mit ihrem täglichen Training haben, „so ist die Zielrichtung noch viel zu stark auf Athletik ausgerichtet.“ Damit baue man Sixpacks und Muskeln auf, „aber weiß nicht, sie richtig einzusetzen.“ Dabei, hat Hans Reitinger in seiner langjährigen Praxis als Jugendtrainer erfahren, „fehlt heute den Jungs die Koordination, die Kinder früher ganz selbstverständlich mitgebracht haben, als sie noch eine breite Sportpalette angeboten bekamen. Heute kommen sie mit vier gleich zum Fußball.“

Mit Sportkinesiologie ließen sich manche der Defizite kompensieren, Klingelhöffer setzt auf das Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften, „die Muskelkraft, Kondition, Ballbehandlung, also alles, was man im üblichen Training lernt, funktioniert links. Das Spielvermögen, das Talent, das Erlernte und alle emotionalen Faktoren werden rechts gespeichert. Diese gedachte rechte Gehirnhälfte sponsert nun die linke und führt zur Leistungsverbesserung.“ Man müsse beide Gehirnhälften gleichmäßig trainieren und in Balance halten.

Die Grundlage für One-Touch-Fußball

Darauf ist das Programm ausgelegt, bei Mannschaftssportlern begleitet von Übungen, die den Teamgeist fördern. So hüpfen die jungen Fußballer nun, um die Beine ein starkes Gummiband, einen Hügel hoch, mühen sich über wacklige Leitern, Bretter und Balken, werfen sich Bälle zu, geben gleichzeitig mit der Hand einen Gegenstand nach links weiter, schieben einen anderen mit dem linken Fuß nach rechts. Höchste Konzentration ist gefordert, „mit dem Körper trainiert man gleichzeitig das Gehirn“, erläutert Andi Gerg, einer von Klingelhöffers Mitarbeitern. Er ist Fußballer und Eishockeyspieler, weiß, wie wichtig Handlungsschnelligkeit ist. Und genau darauf zielt auch die verrückte Übung ab, die oben beschrieben ist. „Wer vor der Ballannahme schon weiß, wie und an wen er ihn weiterspielen wird, der ist im Vorteil. Das ist die Grundlage des modernen One-Touch-Fußballs.“

Hans Reitinger schwört auf die Sportkinesiologie. „Gerade im Mannschaftssport läuft so viel über die emotionale Ebene, Empathie ist gefordert, Harmonie.“ Das alles ließe sich damit fördern, statt einer quälend langen Ansprache vor einem Spiel sollte der Coach lieber ein paar Übungen machen, die die Nervosität nehmen und die Aufmerksamkeit steigern: „Dann noch ein paar Worte und raus.“ Selbst Verletzungen ließen sich reduzieren, „viele sind ja hausgemacht, entstehen durch Überbelastung und Überforderung.“ Auch das könne man durch die Sportkinesiologie besser steuern. Sportkinesiologie bietet viele Chancen, Reitinger sagt: „Die Jungs müssen brennen.“ Und die Sportkinesiologie sei „wie ein Brandbeschleuniger.“

Klingelhöffer freut, dass die Nachwuchsarbeit bei den meisten Vereinen an Wertigkeit gewinnt, „das ist das Fundament“. Eine tolle Architektur aber, beste Trainingsplätze und -möglichkeiten allein reichen nicht aus: „Wir müssen die emotional-soziale Intelligenz fördern, damit der Sport und die Ausbildung besser umgesetzt werden können. Das funktioniert nicht nur mit Geld, eine emotionale Identifikation mit Verein, Mannschaft oder Mitspieler bleibt aus, statt elf Freunden sehen wir elf Konkurrenten.“ Das Resultat: Eigengewächse, also Sportler, die die Corporate Identity eines Vereins verkörpern, finde man kaum noch.

Die Sportkinesiologie, fordert Reitinger, „muss in jedes Nachwuchsleistungszentrum“, nicht nur mit ein paar Einheiten in der Vorbereitung, „sondern permanent, als zusätzliches Element in jeder Trainingseinheit.“ Dafür aber müssten die Trainer wirklich wissen, was sie tun, den Hintergrund kennen, sich mit „liegender Acht“, rechter und linker Gehirnhälfte, analytischer und emotionaler Intelligenz näher befassen: „Einfach mal über den Tellerrand schauen“, empfiehlt Klingelhöffer.

Bestimmt wäre man schon ein großes Stück weiter, hätte Klinsmann vor gut zehn Jahre das, was er machte, auch klar benannt, nämlich als Sportkinesiologie. Vielleicht aber wusste auch er nicht so genau, was er da initiiert hat.

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