Berlin – Wer viel zuhause bleiben muss, baut sich offenbar ganz gern die teilversperrte Außenwelt ins Zimmer. Das Pandemie-Jahr hat den Anbietern von Modelleisenbahnen einen Nachfrage-Boom beschert. „Wir haben einen so hohen Auftragsbestand wie seit Langem nicht“, sagt Florian Sieber, Mitinhaber und kaufmännischer Leiter von Märklin. Das Hobby erfüllt alle Anforderungen des Seuchenschutzes. „Man bleibt zuhause und braucht keinen Kontakt zu anderen Haushalten“, sagt er.
Corona hat zu zu einer Rückbesinnung auf die eigenen vier Wände geführt. Dieser Trend hat einen Namen: „Cocooning“, vom englischen Wort für die Verpuppung von Raupen. Wenn Schwimmbäder und Kinos zu sind, die Kinder nicht zur Schule dürfen und die Bildschirmzeit nicht komplett ausufern soll, muss eben etwas anderes her.
Leicht war das Corona-Jahr für Märklin dennoch nicht. Die Pandemie hat im Frühjahr im Werk Ungarn die Produktion lahmgelegt. Weil damit Teile am Heimatstandort Göppingen fehlten, musste Sieber die gesamte Belegschaft in Kurzarbeit schicken. „Nach dem Produktionsausfall in beiden Werken sind wir das ganze Jahr dem hohen Auftragsbestand hinterhergehechelt“, sagt Sieber. Dennoch sei es nicht gelungen, die Lücke zu schließen. „Viele Aufträge werden wir erst im kommenden Frühjahr erfüllen können“, sagt Sieber.
Doch auf manchem Dachboden liegen noch Kartons mit alten Schienen und Trafos, die sich entstauben lassen. Etwas Rost muss vermutlich auch noch weg, dann lässt sie sich die Bahn immer noch aufbauen. „Das sind dann meist die Eltern oder sogar Großeltern, die das Zusammen mit dem Nachwuchs zu ihrem Projekt machen.“
Dabei hatten Modelleisenbahnen eine schwere Zeit: Seit der Jahrtausendwende sank der Absatz dramatisch. Was genau dann den Durchhänger verursacht hat – darüber gibt es nur Spekulationen. Videospiele wurden eine starke Konkurrenz. Lego und Playmobil wurden vielfältiger. Vielleicht waren die aufwendigen Loks und Wagen auch einfach zu teuer geworden. Hersteller, harte Fans und Fachpresse hatten sich außerdem zu Ernsthaftigkeit verschworen: „Spielzeug“ ist in diesen Kreisen ein Schimpfwort. Mission war die möglichst exakte Nachbildung der großen Realität in Modellen. In der Branche setzte mit rückläufigem Umsatz zunächst Druck zu Übernahmen und Fusionen ein. Märklin kaufte erst den Konkurrenten Trix und ging dann selbst an einen Finanzinvestor. Im Jahr 2013 kaufte die Sieber und Sohn GmbH & Co. die Marke – gemeint ist Vater Michael Sieber, der Mitgründer der Spielwarengruppe Simba-Dickie. Deshalb ist der Sohn, der 35-jährige Florian Sieber, heute der operative Chef bei Märklin. Und er hat das Geschäft neu ausgerichtet, ohne den Traditionen zu schaden und ohne die Traditionalisten zu verprellen.
Im vergangenen Jahrzehnt sind die Bahnen digitaler geworden – sie lassen sich jetzt auch per Handy, App und Browser steuern. Das gefällt dem Modellbahn-Nachwuchs gut. In diesem Jahr ist der Absatz der „Central Station“ CS3, die die Verbindung zur Datenwelt herstellt, um einen zweistelligen Prozentsatz gestiegen. „Die Steuereinheit ist das Gehirn des Märklin-Digitalsystems“, sagt Sieber.
In den kommenden Jahren will er die Eintrittsschwelle senken. „Wir wollen einfacher werden.“ Der Profi soll weiterhin alle Einstellungsmöglichkeiten haben, aber der Einsteiger soll intuitiver loslegen können. Für die Zeit nach Corona erwartet Sieber also gute Tage für Märklin.
Die Pandemie hat den Ideen hinter der Modelleisenbahn wieder mehr Aufmerksamkeit verschafft – mehrere Generationen beschäftigen sich gemeinsam mit einem Hobby, „zuhause kleine Welten erschaffen“, wie Sieber es zusammenfasst. Der geduldige Aufbau von Gleisen, Bahnhöfen, Häusern und Berglandschaften passt jedoch auch ohne Corona zu aktuellen Trends. Die Modellbahn gibt Eltern eine Alternative zur ausufernden Bildschirmzeit ihrer Kinder.