München – Der Dax erreichte vergangene Woche jeden Tag einen neuen Beststand, er pirscht sich immer näher an die Marke von 18 000 Punkten heran. Seit Beginn der Zinsspekulationen im Herbst hat er nun rund 20 Prozent zugelegt. Während einige sich über das hohe Plus freuen, warnen andere, die Fallhöhe sei dramatisch gestiegen. Wie geht es nun weiter? Das haben wir Carsten Mumm gefragt, Chefvolkswirt der Privatbank Donner & Reuschel.
Der Dax eilt von Rekord zu Rekord. Gleichzeitig ist die Stimmung in der deutschen Wirtschaft schlecht wie lange nicht. Wie passt das zusammen?
Das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Die Gewinne und Umsätze der im Dax vertretenen Konzerne haben nicht so besonders viel mit Deutschland zu tun. Die Dax-Konzerne sind international aufgestellt und machen ihr Geschäft oft überwiegend im Ausland. Schauen Sie nur Siemens oder SAP an. Dazu kommt, dass die Aktien von Autobauern in den vergangenen Wochen davon profitiert haben, dass das Verbrenner-Aus nun vielleicht doch nicht ganz so früh kommt wie gedacht. Auch das trägt zu den Dax-Rekorden bei, ebenso technische Gründe.
Erklären Sie.
Die Rekordjagd selbst wird zum treibenden Faktor. Die Überlegung ist, dass vielleicht noch nicht alle Anleger und Investoren eine ausreichend hohe Aktienquote haben. Wenn der Markt so gut läuft wie zuletzt, führt das zu weiteren Käufen und damit zu weiteren Kurssteigerungen. So kommt eines zum anderen. Die Kernerkenntnis aber ist, in vielen deutschen Unternehmen läuft es gut, im Gegensatz zur deutschen Volkswirtschaft.
Im Volksmund heißt es auch oft, dass im Krieg und bei Krisen die Aktienmärkte boomen. Diesen Faktor sehen Sie nicht als Grund für die Rally?
Nein, wir haben kaum Krisengewinner. Rheinmetall ist da eine Ausnahme. Wir haben einfach weltweit gut aufgestellte Unternehmen, die in der Lage sind, mit steigenden Preisen und hohen Zinsen umzugehen und dennoch gute Gewinne zu machen. Für die deutsche Volkswirtschaft und viele kleinere Unternehmen gilt vielmehr das Gegenteil. Sie leiden unter den Folgen des Krieges wie zum Beispiel hohe Energiepreise oder Kaufzurückhaltung der Konsumenten.
In welchen Branchen läuft es besonders gut?
Natürlich bei Technologiewerten, die sind für die nächsten Jahre gesetzt.
Wegen KI, Künstlicher Intelligenz?
Ja, auch deswegen. Die große Hoffnung auf KI begann vor etwa einem Jahr. Dabei muss man unterscheiden zwischen den Unternehmen, die die entsprechenden Tools und die Technik für KI zur Verfügung stellen, und denjenigen Firmen, die in der Lage sind, besonders gut von KI-Anwendungen zu profitieren. Zum Einsatz wird Künstliche Intelligenz ohnehin bei allen Unternehmen kommen.
In welchen Bereichen?
In allen möglichen. Beim Fachkräftemangel zum Beispiel wird KI eine Schlüsselrolle spielen. Deswegen würde ich hier auch nicht von einem Hype sprechen, also von völlig überzogenen Kursentwicklungen, sondern um fundamental begründete Entwicklungen. Sehen Sie nur Nvidia an, die schaffen es Quartal für Quartal die schon hohen Erwartungen zu übertreffen. Da wird wirklich viel Geld verdient. Das heißt natürlich nicht, dass das alles auf ewig so weitergeht. Aber man kann auch nicht von einer Luftnummer sprechen.
Eine Zeit lang haben einige wenige Tech-Unternehmen den ganzen Markt nach oben gezogen. Ist das immer noch so?
Im Prinzip ja. Wobei man heute nicht mehr von den glorreichen Sieben sprechen kann, sondern nur noch den glorreichen Vier.
Welches sind die glorreichen vier?
Nvidia, Microsoft, Amazon und Meta. Das sind die Unternehmen, die im Bereich der Künstlichen Intelligenz am besten aufgestellt sind. Apple, Tesla und Alphabet laufen dagegen nicht mehr so gut. Das zeigt auch, dass nicht alles sozusagen blind gekauft wird und wir keine allgemeine Preisblase haben.
Ein bisschen wenig: vier Aktien, die den Markt tragen, oder?
Ja, stimmt. Von Marktbreite ist da noch nicht zu reden. Deshalb stellen sich einige die Frage, ob es nicht zu einer Konsolidierung kommt und die Kurse einbrechen. Ich glaube das aber nicht. Ich glaube, dass es zu einem Aufholprozess bei anderen Unternehmen kommen wird.
Wie begründen Sie die Hoffnung?
Viele Unternehmen, die stark von der Konjunktur und von den Zinsen abhängen, werden davon profitieren, dass es in der Euro-Zone zu einer gewissen konjunkturellen Stabilisierung kommen wird. Deutschland wird wohl Schlusslicht bleiben, aber perspektivisch sollte es auch hier ab dem 2. Quartal wieder nach oben gehen. Parallel werden wir Zinssenkungen durch die Notenbank haben. Beides wird die jetzt noch abgehängten Unternehmen mit nach vorne bringen.
Wie viele Zinssenkungen erwarten Sie denn in diesem Jahr? Und wann kommen sie?
Ich erwarte, dass die EZB noch vor der US-Notenbank Fed die Zinsen erstmals senkt, und zwar wahrscheinlich schon im April, spätestens im Juni. Grund ist die gravierende weltweite Nachfrageschwäche, die wir immer noch haben. Das wird auch die Inflation nach unten bringen. Und zwar zeitweise sogar unter die von der EZB angepeilten 2 Prozent. Das heißt, die Notenbank könnte eigentlich sofort agieren, was sie aber nicht tun wird.
Warum?
Weil die EZB noch wegen der Löhne besorgt ist, die jetzt infolge recht hoher Tarifabschlüsse steigen. Damit wird auf die hohe Inflation der vergangenen beiden Jahre re-agiert. Ich rechne nicht damit, dass die Abschlüsse dauerhaft so hoch bleiben werden. Deshalb handelt es sich nach meiner Einschätzung eher um einen Lohn-Buckel, nicht um eine Spirale.
Wie viele Zinsschritte sehen Sie für dieses Jahr?
Bis zu vier Zinssenkungen in Europa.
Von der Zinsstory lebt die Börse seit Monaten. Was ist, wenn es doch anders kommt?
Sie haben Recht. Rekordkurse erklären sich auch durch die Zinsen bzw. die Zinserwartungen. Beachtlich, wo wir doch noch vor Kurzem gar keine oder sogar Negativzinsen hatten. Ich glaube aber nicht, dass die Erwartungen enttäuscht werden. Dazu kommen die Zinsen am langen Ende. Bei zehnjährigen Bundesanleihen waren wir im Oktober noch bei drei Prozent, jetzt nur noch bei knapp zwei Prozent. Auch hier weist der Trend eindeutig nach unten. Und diese Zinsentwicklung ist wichtig für Unternehmen, denn ähnlich bewegen sich die kostenrelevanten Kreditzinsen. Da schaut man nicht nur auf den Leitzins.
Also kein Szenario, das die Zinshoffnungen beendet?
Ein solches Szenario tritt ein, wenn die Lage an den bekannten Kriegs- und Krisenherden eskaliert und das die Ölpreise wieder über 100 Dollar treibt. Das wird sich natürlich auf die Inflation und die Zinspolitik auswirken. Das gäbe auch einen Rücksetzer an den Börsen.
Warum steht Deutschland im internationalen Vergleich heute so schlecht da?
Alles, was unser Geschäftsmodell einer starken exportorientierten Industrie ausgemacht hat, hat sich in den vergangenen Jahren zum Teil grundlegend gewandelt: billige Energie aus Russland, reibungslose Lieferketten, Auslagerung lohnintensiver Produktion, vorwiegend nach China, stabile Absatzmärkte – alles das funktioniert nicht mehr wie zuvor. Dazu kommt, dass die Friedensdividende weggefallen ist, das heißt, wir müssen erstmals seit 30 Jahren wieder mehr Geld für unsere Sicherheit ausgeben.
Das alles trifft auch andere europäische Länder.
Andere Länder haben einen stärkeren Dienstleistungssektor und haben mehr auf die Binnenkonjunktur gesetzt. Deutschland hat sich auf den Export fokussiert, der schon seit einigen Jahren schwächelt. Der Welthandel wächst seit 2018 nicht mehr. Dazu kommen bei uns besonders ausgeprägte strukturelle Schwächen, der Fachkräftemangel zum Beispiel und der Umstand, dass wir es nie wirklich geschafft haben, ausländische Fachleute für Deutschland zu begeistern. Und natürlich die hohen Energiekosten, die hohen Lohnnebenkosten und die Bürokratie, die die hiesige Wirtschaft ausbremsen. Deshalb wird der zyklische Aufschwung, den es dieses Jahr geben wird, in Deutschland eher blutleer bleiben.
Zurück zur Geldanlage. Ist es für einen Einstieg am Aktienmarkt angesichts der hohen Kurse eigentlich schon zu spät?
Nein, es ist in meinen Augen nie zu spät, einzusteigen. Man hat immer ein bisschen Angst vor Allzeithochs. Aber wenn man sich die Entwicklung des Dax über die Jahrzehnte anschaut, dann ist er immer von einem Allzeithoch zum nächsten geklettert. Wir haben bei den Unternehmen eine fundamental gute Grundlage. Sicher wird es im Lauf des Jahres auch mal Rücksetzer geben. Das dürfte sich aber im Rahmen von zehn, 15 Prozent abspielen, was völlig normal wäre. Und eher ein Anlass, den Rücksetzer zu nutzen, um sich noch stärker am Aktienmarkt zu positionieren.
Sie sind sehr optimistisch.
Es ist nun mal so, dass Aktien zu jeder langfristigen Anlage gehören. Dafür sprechen momentan auch mindestens drei aktuelle Gründe.
Welche?
Die Zinsen werden langfristig eher niedrig bleiben, weshalb es kaum Alternativen zu Aktien gibt. Zweitens wird die Inflation mittelfristig höher liegen als vor der Corona-Krise, also im Jahresmittel bei 2,5 bis 3,5 Prozent. Mit so einem leicht inflationären Umfeld können Unternehmen gut umgehen, weil es ihnen Preisgestaltungsspielraum verschafft. Noch wichtiger aber ist der dritte Punkt, dass nämlich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ungeheuer viel investiert werden wird, von Staaten und von Unternehmen. Vor allem in die Energieversorgung, in Lieferketten, KI, um dem Fachkräftemangel zu begegnen, Infrastruktur, Bildung … Es kommt darauf an, in diejenigen Unternehmen zu investieren, die davon am meisten profitieren können.
Also vor allem Technologiewerte.
Ja, vor allem. Und Unternehmen aus allen Branchen, die KI am effektivsten in ihre Prozesse einbauen können. Dazu kommen ausgewählte Unternehmen aus dem Finanzsektor, weil es ja auch wieder Zinsen gibt. Ein Megatrend, ähnlich der Technologie, ist die Gesundheitsbranche, die einen Nachfrageschub durch die alternde Gesellschaft haben wird und zugleich von neuer Technologie profitiert. Und Luxus.
Luxus?
Ja. Konsum im Luxus-Segment, also der Handel mit hochpreisigen Waren, deren Käufern steigende Preise nichts anhaben können.
Viele private Anleger investieren am liebsten im eigenen Land. Ist das eine gute Strategie? Kann man mit dem Dax auch in Zukunft gute Renditen machen?
Ich glaube schon. Die Unternehmen sind, wie gesagt, ohnehin international ausgerichtet. Aber es ist auch so, dass durch den Abgesang auf den Standort Deutschland ein großer Veränderungsdruck einsetzt. Das merkt man schon jetzt. Auch in der Bundesregierung ist die Einsicht angekommen, dass man ein wirtschaftsfreundliches Umfeld schaffen muss. Da wird einiges kommen. Ich setzte aber besonders auf den deutschen Mittelstand. Der hat in der Vergangenheit schon oft seine riesige Innovationskraft bewiesen und zeigt auch jetzt, dass er Strukturwandel kann und mit veränderten Rahmenbedingungen zurechtkommt. Das ist ein Ass im Ärmel, das wir in Deutschland immer noch haben. Dann haben auch deutsche Aktien eine gute Zukunft.
Interview: Corinna Maier Andreas Höß