Freising – Flüssiger Stickstoff dampft aus dem blauen Behälter. Johanna Kreißl prüft den Apparat vor sich. Ein kritischer Blick hinter der rahmenlosen Schutzbrille, dann dreht sie behutsam am Zulauf des Glaskolbens, ohne das Hochvakuumgerät vor sich aus den Augen zu lassen. Sofort wird eine klare Flüssigkeit in den Kolben gesaugt, gasförmige und flüssige Bestandteile trennen sich. Ein Besuch bei der 37-Jährigen erinnert ein bisschen an den Chemieunterricht in der Schule: Überall stehen Kolben und Gläser, bunte Schläuche leiten Stoffe aller Art zu. Doch Johanna Kreißl ist keine Schülerin und dieser Ort kein Schullabor. Die Münchnerin ist Doktorin der Lebensmittelchemie und das Labor ihr Arbeitsplatz im Leibniz Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München, kurz Leibniz-LSB@TUM.
Hinter dem sperrigen Namen steckte bis vergangenen September die Deutsche Forschungsanstalt für Lebensmittelchemie. Als sie vor 100 Jahren gegründet wurde, saß sie in München und hatte vorrangig eine Aufgabe: das Überleben der Bevölkerung in Notzeiten sichern. Heute geht es hier vor allem um die Frage, was in unseren Lebensmitteln steckt – und wie die unterschiedlichen Inhaltsstoffe auf den menschlichen Organismus wirken.
In drei großen Forschungsbereichen betreiben derzeit 52 Wissenschaftler und wissenschaftliche Mitarbeiter unter der Leitung des inzwischen sechsten Direktors, Thomas Hofmann (siehe Kasten), anwendungsorientierte Grundlagenforschung. Über die Jahre gelangen den Forschern Meilensteine wie die Nährstoffbibel „Souci-Fachmann-Kraut“ (siehe Randspalte), sie untersuchten unter anderem die praktische Anwendung von Heilquellen und Heilgasen, und schon früh wandten sie sich der Gluten-Forschung zu.
Letztere hat auch heute einen großen Stellenwert, und das nicht nur, weil immer mehr Menschen über Gluten-Sensibilität klagen, an Zöliakie – eine chronische Dünndarm-Erkrankung – oder einer Weizenallergie leiden. Darum beschäftigen sich die Forscher damit, wie verträglich unser Weizen ist, ob alte Sorten besser sind als neue – und wie man die Erkenntnisse in der Produktion anwenden kann. In Zukunft, so die Hoffnung, könnten die Wissenschaftler personalisierte Ernährungspläne erstellen, die auf den Betroffenen abgestimmt sind, und so Menschen mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten helfen.
Seit 2010 steht das Institut am Stadtrand von Freising, umgeben von Weizenfeldern und Wald. Johanna Kreißl forscht hier im Grünen an Aromastoffen. „Unser Ziel ist, herauszufinden, was natürlicherweise in Lebensmitteln vorkommt und das nachweisbar zu machen“, erklärt sie. Ihre Ergebnisse helfen, Standards festzulegen, damit in der Lebensmittelindustrie mit gleichbleibender Qualität produziert werden kann. Messwerte ersetzen dabei die subjektive Beurteilung, zum Beispiel beim Rösten von Kaffee: „Da will ich ja nicht immer einen brauchen, der daneben steht und sagt: Okay, das passt.“ Stattdessen finden Kreißl und ihre Kollegen Größen, an denen man sich bei der Produktion einwandfrei orientieren kann.
Einige Aufträge des Instituts kommen direkt aus der Industrie. „Stellen Sie sich vor, sie haben ein Bier, das plötzlich nicht mehr so schmeckt, wie es soll. Aber sie finden den Fehler nicht. Dann suche ich nach dem Grund für das falsche Aroma.“ Das kann an den Zutaten liegen oder an Verunreinigungen – in jedem Fall sind die Hersteller daran interessiert, den Fehler abzuschalten. „Der Verbraucher will schließlich, dass sein Bier so schmeckt, wie er’s kennt“, sagt Kreißl. Auch Verfälschungen geht sie auf den Grund. Beispielsweise kann sie anhand von Aromen im Aceto Balsamico sagen, ob er echt ist – indem sie Stoffe nachweist, die es nur bei fünfjähriger Lagerung im Fass geben kann. Einen besonderen Geruchssinn braucht sie dafür nicht – sie macht genau das sichtbar, was für den Geruch verantwortlich ist.
Was passiert, wenn ein Geruch in der Nase ankommt, interessiert Forscher wie Patrick Marcinek. Marcinek, 33, Doktor der Biologie, sitzt an der Schnittstelle, an der die Lebensmittelchemie auf die Biologie trifft. Oder auch: An dem Punkt, an dem der Geruch auf die Nase oder der Geschmack auf die Zunge trifft. Doch Rezeptoren sitzen nicht nur dort, wo man sie vermuten würde. Tatsächlich haben Forscher in den vergangenen Jahren entdeckt, dass auch Blutzellen über Rezeptoren verfügen.
Heißt das, dass Blut riechen kann? Marcinek lacht. „Riechen ist eine echte Sinneswahrnehmung der Nase“, sagt er. „Aber Blutzellen können auch auf Lebensmittelinhaltsstoffe reagieren.“ Die spannendste Frage bleibt für den Wissenschaftler: Was riechen wir? Denn, das gilt inzwischen als gesichert, jeder Mensch riecht und schmeckt ein bisschen anders. Bislang sei „erstaunlich wenig erforscht, welcher Rezeptor zum Beispiel in der Nase auf welches Lebensmittel anspringt“. Im Idealfall kann Marcinek den Geruch oder Geschmack am Ende sogar digitalisieren.
Dafür braucht der Forscher allerdings Hilfe von chemisch-technische Assistenten wie Sami Kaviani-Nejad. Der 38-Jährige wacht im Untergeschoss des Instituts über eine Sammlung modernster Geräte, die messen, analysieren und Nanopartikel identifizieren können. „Wenn’s dampft und brodelt, ist es eine typische Arbeit für einen chemisch-technischen Assistenten“, sagt er und lacht. Er baut Apparaturen auf, wiegt ein, destilliert, zentrifugiert und bereitet Proben auf. „Die besten Geräte bringen nichts ohne sauber aufgearbeitete Proben“, erklärt er. Meistens, sagt er, sei eine Probe ein „irres Stoffgemisch. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Kakaobohne und wollen wissen, ob ein bestimmter Stoff drin ist – da suchen Sie immer nach der Nadel im Heuhaufen.“ Oft brauche er eine Woche, um ein Stoffgemisch so auszudünnen, dass es brauchbar wird.
Seine Arbeit kommt am Ende Forschern wie Johanna Kreißl und Patrick Marcinek zugute – und ihre wiederum dem Verbraucher. „Essen“, sagt Patrick Marcinek, „ist die individuellste Sache der Welt, sowohl beim Geruch, als auch beim Geschmack – und bei der Entscheidung, was wir essen.“ Die Methoden, unsere Lebensmittel in ihre kleinsten Bestandteile zu zerlegen und zu bewerten, werden hier entwickelt. Am Stadtrand von Freising, zwischen Weizenfeldern und Wäldern.